Martin Schwanda bestritt mit der "Hochstaplernovelle" (1930) nach Robert Neumann die Wiedereröffnung der "Wortwiege an der Rax". Der große Ballsaal des Thalhofs ist kongeniale Umgebung für den dramatischen Monolog eines Lebemanns des paneuropäischen Jetsets von damals.


Foto: Christian Mair

Neue Gestaltungsmöglichkeiten für Anna Maria Krassnigg.

Foto: Martin Schwanda

Reichenau – Dort, wo die schroffen Wände von Feuchter und Gahns südlich des Schneeberges am dramatischsten gegeneinander abfallen und der Wald dicht und dunkel ins Tal flutet, in dieser pittoresken Idylle steht der Thalhof und streckt seine dottergelben Flügel in die Ebene um Reichenau – wie um etwas willkommen zu heißen oder hinaus zu entlassen. Beide Sichtweisen passen angesichts der Tradition des Platzes.

Diese "absurde Lage" habe sie gereizt, als Neo-Thalhof-Besitzer Josef Rath sie vor eineinhalb Jahren gefragt habe, ob sie sein Haus künstlerisch bespielen wolle, erinnert sich die Wiener Theatermacherin Anna Maria Krassnigg. Eben hatte Rath es erworben und war dabei, die stark mitgenommene Bausubstanz zu sichern und zu renovieren. "Was gäbe es Traurigeres, als hier nur zu wohnen", dachte er da. Mit gutem Grund.

Reizender Genius Loci

Denn bis zur vorigen Jahrhundertwende waren sie alle hier – die Dichter und Denker Wiens und von weiter her. Erst Ferdinand Raimund, J. N. Nestroy und Franz Grillparzer; später verbrachten Arthur Schnitzler, Robert Musil, Sigmund Freud und viele mehr hier ihre Sommerfrische. Nachzulesen im 200 Jahre zurückreichenden Gästebuch des Hauses wie auch Tagebucheinträgen, Briefen etc. der Genannten.

Mit dieser Idylle bedient man heute gern den Kur- und Festspieltourismus. Doch ist die Geschichte des Thalhofs weniger lieblich und harmlos, als die Wald- und Wiesenumgebung glauben machen mag. Der von den Gnaden der Erinnerung verkitschten Sicht zuwider nennt Krassnigg die jungen Schriftsteller, Musiker und Künstler, die hier anno dazumal gelebt und gearbeitet, geliebt und Blumen gepflückt haben, gern "Wahnsinnige". So neu, radikal und exzentrisch waren ihre Ideen mitunter.

Dieser Genius Loci und der Umstand, dass Rath dem Bau im Zuge der Reaktivierung auch Brüche beließ, die er "nicht mit Schönbrunngelb übermalt", sondern als klare Grenze zwischen Altem und Neuem angenommen hat, überzeugten Krassnigg. Am Wochenende startete sie in die erste Saison.

Mehr als Sommertheater

Ihr Plan: Mehr als nur "Sommertheater" zu machen. "Es ist nicht: huch, der Sommer kommt, ich gebe meinen sonstigen Anspruch an der Kasse ab", erklärt sie eloquent, "sondern ein ernsthafter Versuch, Abstand zu gewinnen und sich was zu trauen." Ohne den sonst üblichen Jahrhundertwendefirlefanz und das Festspielgeplänkel will die Neointendantin den Thalhof mit "radikaler Zeitgenossenschaft" wieder zu dem machen, was er einmal war. Statt eines "nostalgischen Missverständnisses" soll hier "eine junge Generation toben wie früher auch".

Dazu stellt Krassnigg den "Bodenschätzen" von damals solche von heute zur Seite, etwa Franz Schuh, Franzobel, Robert Schindel und Mario Wurmitzer. Auch Studenten des Reinhardt-Seminars (wo sie seit 2012 Regieprofessorin ist), der Schule für Dichtung und der Filmakademie will sie für Produktionen holen – viermal im Jahr, um Ernsthaftigkeit und Kontinuität zu gewährleisten. Neben Stücken wird es als "spiel.ball" Vorträge und Gesprächsrunden geben.

Mit 65.000 Euro fördert das Land Niederösterreich den Auftakt, mehr steht in Aussicht. Krassniggs Wiener Bühne "Salon5" tritt als Koproduzent auf.

"Experimentelle Utopie" für die Region

Im Programm finden sich auch in Vergessenheit Geratenes und von der Folgezeit Verdrängtes wieder. Dass sie damit viele üblichen Festspielgäste nicht anspricht, ist ihr bewusst. Sie will den Ort aber auch nicht mit Städtern überrollen, die hier auf den Spuren des ehemaligen Sommerfrischlerjetsets die Bankomaten leer ziehen. Krassnigg will mit ihrer "experimentellen Utopie" die Region auffrischen und ein junges, heterogenes und auch theaterfernes Publikum anziehen. Zum Unkostenbeitrag hat sie deshalb "Urreichenauer" zur Generalprobe der Hochstaplernovelle eingeladen. Ein bisschen wirkte die tadellose Vorstellung trotz aller Hintergründigkeit dann doch wie Sommertheater. Manches lässt sich eben direkter sagen als umsetzen. Doch das Ziel stimmt. (Michael Wurmitzer, 22.6.2015)