Bild nicht mehr verfügbar.

Die meisten Dickleibigen sind ständig auf Diät. Sie nehmen zehn Kilo ab, danach aber wieder 15 Kilo zu. Jahrelang. Irgendwann lässt sich der fatale Kreislauf nur mehr durch eine Operation brechen.

Foto: picturedesk

Wien – Patienten auf Operationstischen schauen unwirklich aus. Es ist morgens um acht Uhr. Im Operationssaal Nr. fünf ist alles parat für eine Magen-Bypass-Operation. Die stark übergewichtige Patientin schläft schon, der Anästhesist überprüft gerade noch eine Infusionsflasche. Optisch ist die Patientin in zwei Teile geteilt. Auf Höhe der Brust ist ein Paravent gespannt, hinter dem Vorhang wird operiert.

Die Geräte liegen bereit, die OP-Assistentin geht noch einmal eine Checkliste durch. Zwischen all dem Grün und Vlies liegt ein mächtiger, mit braunem Desinfektionsmittel eingeriebener Bauch. Fast wirkt er sonnengebräunt. Die Beine sind nach rechts und links auseinandergespreizt. Genau dazwischen, ganz nah am Bauch geht Gerhard Prager, Leiter der Adipositas-Chirurgie am Wiener AKH, in Position.

Die Operation

"Fangen wir an", sagt Prager und zieht sich die Schuhe aus. Viele der Instrumente, die er für die Operation braucht, wird er mit den Füßen bedienen. Er operiert laparoskopisch, also von innen. Zwei kleine Schnitte rechts und links des Nabels reichen, um Licht, Kamera und Instrumente einzuführen. Das Stromskalpell wird mit den Füßen bedient, "wie eine Nähmaschine", sagt er.

Jetzt ist jeder aus dem achtköpfigen OP-Team in Position. Die Assistentin ruft laut den Namen der Patientin und "Omega-Loop!" Das ist die neueste Generation eines Magen-Bypasses. Über dem Bauch sowie rechts und links der Patientin gehen die Bildschirme an. Prager nimmt ein Gerät, das wie eine Pistole mit einem sehr langen Lauf aussieht, zur Hand, positioniert es am Bauch der Patientin und macht einen kurzen, entschlossenen Stoß. Zuerst einen, dann noch einen.

"Wir sind drinnen", sagt er. Das Licht im OP geht aus, auf den Bildschirmen erscheint das Innenleben der Patientin. Rot und glitschig sieht es hier aus. Prager bahnt sich mit Zangen, die jetzt riesig wirken, seinen Weg zum Magen. Denn da will er hin. Die pistolenähnlichen Geräte sind seine verlängerten Arme, die Zangen sein Skalpell. "Nur fünf Prozent aller Menschen mit einem BMI von 40 schaffen es aus eigener Kraft, dauerhaft abzunehmen", sagt Prager, während er auf den Monitor schaut. 3.000 Adipositaspatienten hat er operiert und weiß, dass es für die meisten die letzte Chance zum Abnehmen ist.

Zu viel Essen

Das Phänomen der wachsenden Fettleibigkeit in der industrialisierten Welt betrachtet er darwinistisch. Noch nie in der Geschichte der Menschheit, sagt er, hätte es über so lange Zeit Nahrungsüberfluss gegeben und auch noch niemals zuvor so viel fett- und zuckerreiches Essen. Der Stoffwechsel von Adipösen kommt mit diesem Überangebot nicht zurecht.

Mit Willenskraft sei da nichts mehr zu schaffen, ist er überzeugt und zitiert Studien – die Operation sei der letzte Ausweg, sie sei effizient und für die Patienten eine geringe Belastung. All das kann er mit Statistik beweisen. Seine sportliche Sicherheit flößt Vertrauen ein. "Da ist die Leber", zeigt er. Überall leuchten quittengelb wellige Bahnen, die sich an die Organe schmiegen. Das ist das Fett, das sich über die Jahren hier angesammelt hat.

"Ich war seit meinem 16. Lebensjahr immer auf Diät", erzählt Andrea. Sie ist 30, ex-adipös und heilfroh über ihre Entwicklung. Sie sieht gut aus. Weight Watchers, Friss die Hälfte, Schlank-im-Schlaf, Kalorienzählen, kein Eiweiß, nur Eiweiß, die Hollywood-Stardiät: "Hat alles funktioniert, nur: Danach habe ich immer noch mehr zugenommen", beschreibt sie den weitläufig bekannten Jo-Jo-Effekt. "Zu viel Essen und das Wohlgefühl von Sattheit", sagt Edith Freundorfer, Psychologin im AKH-Adipositasteam, "ist Trost, eine Ersatzhandlung für mangelnde Zuwendung, Schüchternheit, Stress, Traumata – oder alles zusammen."

Veranlagung und Lebensstil

Abgesehen von psychischen Faktoren spielen Gene, Bildung und soziale Faktoren eine ebenso zentrale Rolle. Wenn Essen in Familien kein gemeinsames Ritual ist und sich Kinder von Fastfood ernähren, erhöhe das die Voraussetzungen für Übergewicht, so die Psychologin. "Ein Cheeseburger hatte vor 20 Jahren durchschnittlich 333 Kilokalorien, heute 560", zitiert Prager eine US-Studie. Weltweit seien 1,9 Milliarden Menschen übergewichtig, 600 Millionen adipös. "Hunger und Sättigung werden hormonell gesteuert, bei Patienten mit Adipositas sind diese Mechanismen total aus dem Ruder gelaufen", sagt er.

"Das Gefühl, satt zu sein, kannte ich nicht", bestätigt Andrea. Psychologin Freundorfer weiß aus Erfahrung, dass die meisten nicht wegen Übergewicht, sondern erst bei Diabetes, Bluthochdruck oder Gelenksproblemen aktiv werden.

Konkret kommen sie in eine der immer häufiger werdenden Adipositas-Ambulanzen und werden dort von Ärzten, Ernährungsberatern und Psychologen in die Mangel genommen. Wer auch beim betreuten Abnehmen scheitert, kommt für eine krankenkassenfinanzierte Operation infrage. "Meine größte Angst war, dass ich nach der Operation nichts mehr essen kann", sagt Andrea ehrlich. Erst in den Gesprächen mit anderen Betroffenen hat sie Mut gefasst.

Verschiedene Essmuster

Wer es auf den Operationstisch ins AKH Wien geschafft hat, musste meist lange warten. Hat sich mit sich selbst und seinem Essverhalten auseinandergesetzt. Adipöse haben verschiedenste Essmuster: Belohnungsesser, Couch-Potatoes, High-Volume-Eater, Sweet-Eater zum Beispiel oder solche, die essen und erbrechen: Für Prager ist das wichtig zu wissen, weil es die Operationsmethode bestimmt. Magenbänder etwa verkleinern das Volumen und bringen schneller ein Sättigungsgefühl. "Die neuesten Zahlen zeigen, dass sie nur bei der Hälfte der Patienten langfristig erfolgreich sind", zitiert er neue Untersuchungen.

Beim sogenannten Sleeve wird der Magen zu einem Schlauch verkleinert: "Gut für alle, die gewohnt sind, große Mengen zu essen." Mit Magen-Bypässen habe man auf lange Sicht größere Erfolgsraten, sagt Prager, der sich nichts dringender als ein Register wünscht, in dem Daten zur Adipositas-Chirurgie erfasst und evaluiert werden: "Nur leider finanziert es niemand – ganz unverständlich angesichts der steigenden Adipositas-Zahlen."

Der "Omega-Loop", der gerade im OP auf dem Programm steht, ist die neueste Methode. Am Bildschirm schneidet Prager gerade mit einem silberglänzenden Gerät, das wie ein Haarglätteisen aussieht, den Magen zurecht. Das raucht, und man sieht am Bildschirm das Fett brutzeln. Der kleine Magen, "Pouch" im Fachbegriff, ist fertig. Als Nächstes ist die Darmverkürzung dran.

Weniger Nährstoffe

Mit einer Art Zwicke arbeitet er sich den Darm entlang, sein Assistent zählt in Fünferschritten bis 200. "Stopp", sagt er, holt sich die Darmschlinge und brennt ein Loch hinein, hantelt sich zurück zum Magen, brennt auch dort ein Loch hinein und schließt die beiden "Enden" quasi kurz. Weite Teile des Magens und Darms liegen jetzt brach. Die Patientin wird deshalb künftig automatisch weniger Nährstoffe aufnehmen – das ist der Clou und der Rettungsanker für Adipositaskranke.

Andrea wurde vor einem Jahr operiert. 2014 wog sie 137 Kilo, in 14 Monaten hat sie 47 Kilo verloren. Ihr schönstes Erlebnis: "Der Tag, an dem ich mich bücken und die Schuhe binden konnte." Sie isst nur kleine, "gesunde" Portionen, nimmt täglich Vitamintabletten, um die Versorgung mit Nährstoffen zu sichern, macht viermal die Woche Sport ("jeden Tag lieber") und geht halbjährlich zur Kontrolle.

Andrea weiß auch, dass sie ihren Bypass überlisten könnte, also viele kleine Portionen viel zu oft essen könnte. "Grasen" heißt das. Das macht sie nicht. "Essen ist bei mir eine Sucht", sagt sie und würde sich Hilfe holen, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen. "Esssucht hört nie auf", weiß Prager. Patienten, denen er nach Jahren das Magenband entfernt, nehmen wieder massiv zu.

Fette Voraussicht

"Es gibt häufig Beschwerden nach einer Adipositas-Chirurgie", berichtet Patientenanwältin Sigrid Pilz und macht sich Sorgen um alle, die glauben, eine Operation würde ein Suchtverhalten kurieren oder ihren dickmachenden Lebensstil kompensieren. Nicht wenige beklagen sich, wenn sie wieder zunehmen, sehen es als Operationsmisserfolg.

"Das sind die Ärmsten", sagt Prager, sieht allerdings keine Alternative zur Operation. Denn, und auch da ist Prager sehr klar, "die Kosten, die dem Gesundheitssystem durch Adipositas entstehen, also die Behandlung von Diabetes oder Invalidität, sind viel höher als die der Operation".

Nach drei Jahren habe sich ein Magen-Bypass wirtschaftlich gelohnt, zitiert er Studien. Prager setzt sich auch dafür ein, dass junge Erwachsene operiert werden. Warten, bis Diabetes kommt, findet er gerade bei Jungen unethisch. Übergewichtige hätten viele soziale Nachteile, auch bei der Jobsuche, bestätigt Psychologin Freundorfer.

"Richtige Entscheidung"

Prager und sein Team beenden gerade ihre Operation. Der Anästhesist führt ein Gastroskop durch die Speiseröhre der Patientin ein, die Chirurgen am anderen Ende sehen das Licht kommen. Jetzt spritzen sie Wasser auf die Nahtstelle zwischen Magen und Darm, um zu überprüfen, ob alles dicht ist. "Dasselbe Prinzip wie beim Fahrradschlauch-Flicken", sagt Prager.

Es ist 8.36 Uhr. Er zieht die Geräte aus dem Bauch der Patientin, die Bildschirme werden schwarz. Mission beendet. Zwei Stunden später liegt sie schon im Aufwachraum. In den nächsten zwei Jahren wird sie Kilos verlieren. Dann pendelt sich das Gewicht ein, meist kommen wieder ein paar Kilo hinzu.

"Es war die richtige Entscheidung", sagt Andrea, weiß aber, dass sie immer süchtig nach Essen sein wird. Äußerlich hat sie ihr Gewicht durch die Operation in den Griff bekommen, der achtsame Umgang mit sich selbst wird täglich ihre innere Herausforderung bleiben. Ein Leben lang. (Karin Pollack, 22.6.2015)