Stellt eine durchsetzungsfähige Greisin ins Zentrum seines neuen Romans: Vladimir Vertlib.

Foto: Marko Lipus

Der erste Satz ist von großartiger Eindringlichkeit. Er trifft die existenzielle Problematik der Titelfigur und ihren Umgang mit Phrasen: "Wenn ich jetzt sterbe, dann kann ich damit leben", beginnt Lucia Binar, eine 83-jährige Wienerin, ihre Ich-Erzählung in ihrer Zeitform der Gegenwart.

Seit der Kindheit wohnt sie im selben Haus des zweiten Bezirks. Sie war eine geachtete Lehrerin, liebt und zitiert Lyrik; nun ist sie allein und muss sie mit ihrer Gebrechlichkeit und mit jenen ihrer Umwelt fertig werden. Ihre Vergangenheit tritt in prägnanten Passagen hervor, viel Zukunft gibt sie sich selbst nicht mehr. Das Geschehen indes spielt in unserer Zukunft, von März bis Mai 2016.

Vladimir Vertlib hat eine sympathische, leicht alterszynische Dame geschaffen, die im Mittelpunkt des Romans Lucia Binar und die russische Seele steht. Den Typus der durchsetzungsfähigen Greisin charakterisiert er vor allem durch die Redeweise. Lucia schreibt sich selbst "Sprachhunger" zu und reflektiert ihr Verhalten: "Wenn wir einmal aus der Rolle fallen, so muss es sich auch hierbei um eine überlegte und glaubwürdige Inszenierung handeln." Der Roman braucht dazu ein Übermaß an Inszenierung.

Anfangs geht es um Kleinigkeiten, bald um schlimme Zustände in Österreich und um Russlands Abgründe. Am Ende verspricht eine aberwitzige metaphysische Performance, das Publikum im "Schwarzen Salon" könne "sich selbst im Weltgeist entdecken".

Eines Mittags bleibt das Essen auf Rädern aus. Im Notruftelefon des Callcenters schreit eine genervte Elisabeth, die Alte solle sich mit Mannerschnitten ernähren. Dann läutet ein junger Mensch an, ob männlich oder weiblich, vermag Lucia – wie später auch andere Leute – nicht zu erkennen. Moritz heißt er, im Laufe der Geschichte freundet er sich mit der Dame an. Er legt eine politisch korrekte Petition vor, die Große Mohrengasse müsse man in Möhrengasse umbenennen.

Fäden des Zufalls

Daraufhin führt Vertlib den zweiten Strang des Romans als Er-Erzählung in der Vergangenheit ein. Sie beginnt damit, dass der ehemalige Lehrer Alexander aus Russland mit einer Elisabeth einen Liftunfall überlebt, ausgerechnet im Gebäude des Immobilienhais, den Lucia von Kind auf kennt.

Die komplexen Verhältnisse widersprechen den Eindeutigkeiten rassistischer Zuweisungen, die viele Figuren äußern: Alexanders Mutter ist Baschkirin, sein Vater zur Hälfte Tschuwasche, zur anderen Deutscher; mindestens sieben Elisabeths spielen eine Rolle. Aber das Ganze wirkt zu konstruiert. Indem Vertlib die Fäden des Zufalls überdehnt, ersteht der Eindruck, dass auch die schlimmen Zustände in erster Linie Romankonstruktionen sind.

Die sozialen Probleme im Großen und Kleinen, die familiäre und die gesellschaftliche Gewalt häufen sich. In Wien regieren korrupte Politiker und Unternehmer, wird Lucias Haus zum Mikrokosmos der Abgesandelten. Und die "russische Seele", von der so oft die Rede ist, bringt furchtbare Scheußlichkeiten hervor. Das heutige Regime nimmt sinnbildhaft die Position des Zarenreiches ein. Im Gefängnis verdeckt ein Putin-Porträt den roten Stern über dem Spruch von der Läuterung des Menschen durch Arbeit, "ein Stern, dessen Spitzen trotzdem deutlich erkennbar waren, sodass man den Eindruck bekam, der Präsident trage eine dreizackige, rosafarbene Krone".

Gewitzte Dialoge

Wie in all seinen Prosawerken gelingen Vladimir Vertlib, der als Fünfjähriger mit seiner Familie aus Leningrad emigrierte, einige derart eindrucksvolle Bilder. In den Romanen, die er in der fiktiven Stadt Gigricht ansiedelt, und in den Erzählungen des Bandes Mein erster Mörder (2006) ist jedoch seine Ironie feiner, die Geschichte tiefgreifender, das Personal wahrlich kein Typenkabinett. Nun bietet er eine kurzweilige Handlung und gewitzte Dialoge. Manche aber sind unnötig auf die Phrase gekommen, bisweilen fällt eine Passage betulich aus. Zu oft wird "geschmunzelt", geradezu plump lächerlich ist eine Französin, die Vertlib mit einer wenig plausiblen Sprachkarikatur versieht. Die junge Frau studiert Germanistik in Wien und redet wie aus der Klischeeschule für Anfänger.

Die russische Seele des Untertitels ist ein Programmpunkt der Vorstellung im "Schwarzen Salon", sie erscheint in Form ethischer Typen aus dem untergegangenen Sowjetreich, die im Bus Gespräche über den Sinn des Lebens führen.

Bevor es die österreichische Seele gab, war die russische Seele da, naturgemäß ein Mythos. Man meint sie landläufig in gefühlvoll tiefen Stimmen mit Balalaika ausgedrückt. So kommt sie in Lucia Binar auf die Bühne. Der Untertitel findet keine weitere Beziehung zur Hauptfigur, sodass die Konstruktion wohl thematische wie personelle Verbindungen schafft, jedoch die Mühen des Aufbaus erkennen lässt. Die Wirkung des ersten Satzes verpufft im Laufe des Romans, der trotz des letzten, die Grenzen des Realismus überschreitenden Theatereffekts meist an der Oberfläche bekannter Bilder bleibt. (Klaus Zeyringer, Album, 19.6.2015)