Toomas Hendrick Ilves.

Foto: imago/Metodi Popow

STANDARD: Seit der Sicherheitskonferenz in München ist in der Ukrainefrage diplomatisch nicht viel weitergegangen. Warum nicht?

Ilves: Es ist nichts weitergegangen, weil sich nichts Wesentliches verändert hat. Die Fakten im Feld sind die gleichen. Bei den Problemen, die wir seit dem Sommer 2014 klar sehen – die Annexion der Krim und die Invasion im Donbass, die niemand eine Invasion nennen will – hat es keine Fortschritte gegeben. Was können wir angesichts dessen sagen?

STANDARD: Nichts?

Ilves: Richtig. Deshalb sprechen wir eben über altbekannte Dinge und stecken einfach unsere Positionen ab.

STANDARD: Wie ließe sich Russland engagieren und zu ernsthaften Gesprächen bewegen?

Ilves: Wenn wir die Situation vorfinden, dass alle Verantwortung dafür, was passiert, von diesem einen Land den USA zugeschrieben wird, dann wird es schwierig, wenn die USA nicht wirklich am Tisch sind. Der Versuch, die Minsker Vereinbarung umzusetzen, ohne die USA und Großbritannien, die beide das Budapester Memorandum über die territoriale Integrität der Ukraine unterzeichnet haben, wird nicht weit kommen. Der Grund für den Ausschluss dieser beiden wichtigen Parteien ist, dass man Minsk, das sich im Wesentlichen um Donezk und Luhansk dreht, nicht von der Krimfrage überlagert sehen will.

STANDARD: Werden sich die USA in den kommenden Monaten mehr in den Verhandlungen engagieren?

Ilves: Das sehe ich nicht. Zuletzt haben sie eher mit der Neuorientierung ihrer Nato-Politik Schlagzeilen gemacht. Obwohl daraus viel mehr gemacht wurde, als die Sache tatsächlich hergibt. Sie stationieren ja nicht wirklich viel schweres Gerät in den östlichen Nato-Staaten. Die Proportionen in der Berichterstattung fehlen.

STANDARD: Ein bloßes Signal?

Ilves: Ja, ein Signal, dass man die Hände nicht in den Schoß legen wird. Aber es ist keine Eskalation. Es wird nur das gemacht, was in den Nato-Russland-Verträgen steht. Das minimale glaubhafte Engagement müsste eigentlich eine Brigade pro Nato-Land sein, also 3000 Soldaten. Derzeit sprechen wir von jeweils einer Kompanie von 150 Mann pro Land.

STANDARD: In Wien war von einem kleinen Kalten Krieg die Rede. Würden Sie dem zustimmen?

Ilves: Das Gegenteil ist der Fall. Derzeit sterben mitten in Europa Menschen im Krieg. Ich bin kein Fan des Kalten Krieges, aber in dessen Zeiten wurden keine Menschen durch militärische Aktionen umgebracht. Viele sagen, sie wollten keinen neuen Kalten Krieg. Allerdings: Ein neuer Kalter Krieg bedeutet, dass mehr Menschen am Leben bleiben, als es derzeit der Fall ist.

STANDARD: Gibt es eine Möglichkeit, die Russen auf den Unterschied zwischen dem strategischen Interesse Präsident Putins und dem strategischen Interesse Russlands aufmerksam zu machen?

Ilves: In der Mediensituation in Russland derzeit nicht wirklich. Wenn Reporter dafür, dass sie über russische Gefallene berichten, halbtot geschlagen werden, ist es unwahrscheinlich, dass dort eine Art Anti-Kriegs- und Anti-Regime-Stimmung aufkommt.

STANDARD: Es ist die Rede davon, das die ethnischen Russen im Baltikum eine Gefahr für die Staaten dort werden könnten.

Ilves: Keineswegs. Der Grad der Freiheit und des Wohlstandes dort ist mit Russland oder der Ukraine nicht zu vergleichen. Ein Bergmann im Donbass verdient 150 Euro im Monat, in Estland sind es 1500 bis 2500 Euro. Wir genießen alle Freiheiten der EU. Es gibt null irredentistische Gefühle. (Christoph Prantner, 18.6.2015)