Andreas Lorenz: Aung San Suu Kyi. Ein Leben für die Freiheit
C. H. Beck 2015
336 Seiten

Foto: C.H. Beck Verlag

"Meine Frau entscheidet, wen ich wähle", soll Michael Aris in Oxford einem Wahlwerber an seiner Haustür gesagt haben. Diese Anekdote erzählte Aung San Suu Kyi 2012 in einer Rede vor dem britischen Parlament über ihren Ehemann – sie illustriert deutlich, wie durchsetzungsstark die spätere Friedensnobelpreisträgerin schon in ihren jungen Jahren war. Zu einem "politischen Wesen" aber habe sie erst der jahrelange Hausarrest gemacht. Aber der Reihe nach:

Prägender Vater

Der langjährige Spiegel-Korrespondent in Asien, Andreas Lorenz, hat eine kenntnis- und detailreiche Biografie über die streitbare Politikerin geschrieben. Er erzählt von ihrer Kindheit und Jugend als Tochter eines berühmten Vaters und einer sehr strengen Mutter. Seiner Meinung nach ist Aung San Suu Kyis Entwicklung zu einer Ikone der Freiheit nicht ohne die Geschichte ihres Vaters zu verstehen: Aung San war maßgeblich an der Entwicklung der Kolonialprovinz Burma zum unabhängigen Staat beteiligt und wird bis heute als Volksheld verehrt.

Zwei Monate vor Aung San Suu Kyis Geburt am 19. Juni 1945 war er mit der Burmesischen Nationalarmee zu den Briten, den ehemaligen Kolonialherren, im Kampf gegen die japanische Besatzungsmacht übergelaufen und gewann für sein Land die Unabhängigkeit. Aung San Suu Kyi wuchs also in Wohlstand und Sicherheit auf, wiewohl ihre Kindheit durch die Ermordung ihres Vaters bei einem Attentat überschattet wurde. Mit 15 Jahren folgte sie ihrer Mutter, die als Diplomatin nach Delhi geschickt wurde, mit 19 ging sie nach England zum Studium, arbeitete kurz für die UNO und lebte dann jahrelang als Hausfrau und Mutter.

Anführerin aus Zufall

Den Militärputsch in ihrer Heimat im Jahr 1962 hatte sie also nur aus der Ferne miterlebt. Zur Anführerin des friedlichen Protests wird sie aus den schon genannten historischen Gründen – und mehr oder weniger aus Zufall: Als ihre Mutter ernstlich erkrankt, eilt sie zu ihr in ein Land, das 1988 bereits von Studentenprotesten gegen die Diktatur erschüttert wurde. Als sie von der illegalen Lehrergewerkschaft kontaktiert wurde, habe sie anfangs kein Interesse gehabt, sich in die Politik einzumischen, berichten ZeitzeugInnen. Nur zwei Tage später aber stimmte sie zu und hielt eine Rede vor Millionen.

Sechs Jahre Hausarrest

Dann ging alles sehr schnell: Ihr britischer Mann reiste mit beiden Söhnen, damals elf und 16 Jahre alt, aus. Sie blieb und bot ihm die Scheidung an, was er immer ausschlug. Aus der Privatperson war die Freiheitskämpferin geworden. 1989 legte sie tausende Kilometer im Auto zurück, um zum gewaltfreien Widerstand aufzurufen, daraus folgten fast sechs Jahre Hausarrest. Man wollte sie mundtot machen, einen Prozess gab es nicht.

Sechs Jahre sind hier schnell hingeschrieben, die Umstände und die Dauer dieser Tage und Stunden auch erahnbar zu machen, ist eine der Qualitäten dieses Buches. Es gelingt Andreas Lorenz, selbst den Tagesablauf dieser beeindruckenden Frau nachvollziehbar zu machen, ihren Weg zu Meditation und Buddhismus, aber auch zu den Werken großer Vorbilder wie Gandhi oder Jawaharlal Nehru, dem ersten Ministerpräsidenten Indiens, den sie auch persönlich kennengelernt hatte. Eine Ausreise hätte bedeutet, nie mehr einreisen zu dürfen: Sie entschied sich gegen die Familie und für ihren Kampf. 1991 erhielt sie dafür den Friedensnobelpreis.

Aufruf zum Boykott

Sie rief zum Tourismus- und Wirtschaftsboykott auf und wollte auch die Hilfe von NGOs nur zögerlich annehmen. Hat sie mit ihrem hohen moralischen Anspruch ihren Landsleuten sogar geschadet? Sogar diese Frage wagt der Autor zu stellen. 1997 hatte sie den Wirtschaftsboykott der USA mitbewirkt, 1998 kostete eineinhalb Kilo Reis die Hälfte des Tageslohnes eines Arbeiters, das Volk hungerte.

Eine persönliche Tragödie im Leben dieser prinzipientreuen Frau ist sicher, dass die Videobotschaft, die sie ihrem krebskranken Mann nach England schickte, diesen nicht mehr lebend erreichte. Michael Aris starb 1999 mit nur 53 Jahren. 2002 wurde der 2. Hausarrest nach 19 Monaten aufgehoben, die Angst im Land war aber so groß, dass selbst ihr Name nicht ausgesprochen werden konnte: Nach dem Blutbad von Depayin, das manche als Mordersuch an ihr interpretierten, folgten Inhaftierung und Hausarrest Nummer drei.

Präsidentin in spe

Die USA verstärkten ihren Druck, die "Safranrevolution" der Mönche 2007 wurde blutig niedergeschlagen. Erst eine Naturkatastrophe, der Wirbelsturm Nagris, bewog die Junta 2008 internationale Hilfe anzunehmen. Aung San Suu Kyi war zu diesem Zeitpunkt bereits fünf Jahre ohne Urteil eingesperrt. Erst nach der Abhaltung von Pseudowahlen wurde sie 2010 freigelassen, sie war damals 65 Jahre alt. In den Jahren danach wurde aus der Dissidentin die Realpolitikerin. 2014 sammelte sie mit ihrer Partei mehr als fünf Millionen Unterschriften für eine Verfassungsänderung, die Myanmar zu einem wirklich freien, demokratischen Land machen soll. "Die Zeit drängt", heißt das letzte Kapitel des Buches. Ob sich das Präsidentenamt für sie noch ausgehen wird? Nelson Mandela war bei seinem Amtsantritt 75, Aung San Suu Kyi wird diese Woche 70. (Tanja Paar, 17.6.2015)