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Die Kämpfe in der Ostukraine sind wieder aufgeflammt, auch schwere Waffen sind im Einsatz. Im Bild: Eine Separatistin lädt Munition in einen Panzer in Donezk.

Foto: AP Photo/Mstyslav Chernov

STANDARD: Nach einigen Monaten relativer Ruhe in der Ukraine gibt es wieder Kämpfe fast an der gesamten Frontlinie, schwere Waffen werden aufgezogen, Präsident Poroschenko warnt vor einer großen russischen Invasion, vom G7-Gipfel kamen scharfe Worte in Richtung Moskau, die OSZE-Vermittlerin Tagliavini zieht sich zurück - das sind alles schlechte Zeichen. Werden wir einen heißen Sommer in der Ukraine sehen?

Ischinger: Ich hoffe, dass sich diese Signale nicht zusammenfügen lassen zu einem strategischen Ansatz, der auf eine erneute größere Eskalation zielt. Keiner der beiden Seiten wäre damit gedient, sich des Mittels der militärischen Eskalation zu bedienen. Ich sehe eher gesichtswahrende Aktivitäten und hoffe, dass ich recht habe.

STANDARD: Wirken die Sanktionen gegen Russland tatsächlich derart, dass es bei einer solchen Symbolpolitik bleiben und der Konflikt diplomatisch gelöst werden könnte?

Ischinger: Das zentrale strategische Ziel sollte nicht die Umsetzung dieser Sanktionen sein. Sie haben einen starken symbolischen Charakter. Ob sie die russische Politik verändern, das vermag ich nicht zu beurteilen. Viel wichtiger ist: Der Westen muss dafür sorgen, dass die Ukraine nicht untergeht - und zwar weder politisch-militärisch noch wirtschaftlich-finanziell. Wenn es uns gelingt, dass sich das in größten Schwierigkeiten steckende ukrainische Staatswesen mit einer desolaten, von Korruption und Oligarchentum geprägten Wirtschaft von Grund auf erneuert, dann - und nur dann - hat der Westen und haben die Werte des Westens gewonnen. Dann wird auch die gesamteuropäische Ordnung, so wie es zuletzt der Fall gewesen ist, nicht mehr infrage gestellt werden können. Die Sanktionen sind zwar ein notwendiger Schritt, um Moskau zu zeigen, dass es so nicht geht. Die viel bedeutsamere politische Aufgabe des Westens und der EU ist es aber, der Ukraine zu helfen.

STANDARD: Es gibt politische Kämpfe zwischen dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko und Oligarchen. Wie fest sitzt er im Sattel?

Ischinger: Er ist mit einer klaren Mehrheit ins Amt gekommen. Das steht auf der Habenseite. Auf der Sollseite ist zu vermerken, dass seit seinem Amtsantritt keine großartigen Fortschritte zu vermelden sind. Weder in der Frage der Dezentralisierung noch in der allgemeinen Verfassungsreform, bei der Korruptionsbekämpfung oder in der Ostukraine ist eine grundsätzliche Verbesserung eingetreten. Die Regierung arbeitet zwar, aber wir erwarten von diesem geschlagenen Land auch fast zu viel auf einmal. Es ist so, als ob ein Herzpatient, der einen dreifachen Bypass braucht, zum Kardiologen kommt und der ihm sagt, dass er vor der OP noch zwei Marathons laufen muss. Die zentrale Frage ist: Wie können wir helfen, die ukrainische Regierung instand zu setzen, Reformen durchzubringen und gegen Korruption vorzugehen.

STANDARD: Die Separatisten sollen unlängst Kompromissvorschläge unterbreitet haben, in denen es erstmals nicht um Abspaltung geht, sondern um einen weitreichenden Autonomiestatus. Ist das korrekt?

Ischinger: Ich kenne die Vorschläge nicht im Einzelnen. Es würde mich aber nicht wundern, wenn sie in diese Richtung gingen, weil die Weisungsgeber der Separatisten in Moskau kein Interesse an der Abspaltung der Gebiete haben. Es besteht vielmehr Interesse daran, Einfluss auf die ganze Ukraine zu behalten und nicht nur in einem abgespaltenen Teil des Landes.

STANDARD: Wien und Rom bringen das Südtirol-Modell als eine mögliche Lösung für den Konflikt ins Spiel. Ist das realistisch?

Ischinger: Nach Modellen zu suchen, die in der europäischen Vergangenheit funktioniert haben, ist nicht falsch. Ich fürchte allerdings, dass der lokale Hassquotient derzeit in der Ostukraine möglicherweise größer ist, als er es in Südtirol je war. Wir haben 6500 Tote und mehrere Millionen Binnenflüchtlinge in der Region. Das ist eine entsetzliche Tatsache.

STANDARD: Beim Core Group Meeting der Münchner Sicherheitskonferenz in Wien geht es auch um eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa. Können Sie etwas mehr darüber sagen?

Ischinger: Die großen Fragen in Wien sind: Wie führen wir die Ukraine aus der Krise? Wie stärken wir die europäische Sicherheitsarchitektur für künftige Krisenfälle? Und was könnten Elemente eines kooperativeren Verständnisses zwischen dem Westen und Russland sein? Das wollen wir in Wien im Rahmen der OSZE erörtern.

STANDARD: Ist es derzeit überhaupt möglich, mit Moskau eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden?

Ischinger: Die klugen Russen wissen ganz genau: Wir, die Europäer, sind der einzige und beste Partner dafür, wenn es darum geht, die russische Gesellschaft für das 21. Jahrhundert fit zu machen. Russland droht ökonomisch abzugleiten, wenn es dauerhaft auf westliche Technologie verzichten muss. Die ökonomischen Aspekte der früheren drei Körbe des KSZE-Prozesses sind die, die langfristig betrachtet die größte Anziehungskraft beinhaltet. Natürlich: "It always takes two to tango." Wir können nichts anderes tun, als Angebote zu machen. Es liegt an Moskau, die Angebote anzunehmen oder abzulehnen. Das ist die Fortsetzung der klassischen deutschen Ostpolitik. In dieser Tradition sollten wir die russischen Reaktionen mit strategischer Geduld abwarten. Wir brauchen einen langen Atem und dürfen Sicherheit in Europa möglichst nicht gegen, sondern müssen sie gemeinsam mit Russland definieren.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die europäische Geschlossenheit gegenüber Russland?

Ischinger: Ich bin positiv beeindruckt davon, dass die Geschlossenheit im Gegensatz etwa zum Irakkrieg so groß ist. Seit über einem Jahr stehen wir wie eine Eins. Wenige Dinge haben in Moskau so überrascht wie diese Tatsache. Das ist ein Fortschritt der Europäer, sie sprechen mit einer Stimme und präsentieren sich als glaubwürdiger Akteur. Den Ukraine-Test hat die EU bisher ganz gut überstanden. (Christoph Prantner, 16.6.2015)