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Protestaufmarsch gegen die Europolitik in Frankfurt nahe der EZB-Zentrale. Überschreitet die Europäische Zentralbank (EZB) ihr Mandat, weil sie in der Europolitik mitmischt?

EPA / Andreas Arnold

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Die rechte Hand von EZB-Präsident Mario Draghi: Sein Chefökonom, Peter Praet.

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STANDARD: Die EZB mischt sich seit Krisenausbruch intensiv in politische Debatten ein, schreibt Ländern vor, was sie tun sollen. Überschreiten Sie nicht Ihr Mandat?

Praet: Die EZB trifft geldpolitische Entscheidungen, um ihr Ziel, die Gewährleistung von Preisstabilität, zu erreichen. Wir äußern uns hörbar zu Strukturreformen, wenn dies im Rahmen unseres vertraglich festgeschriebenen Mandats für notwendig gehalten wird. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns beispielsweise von der Federal Reserve in den USA, die sich nie an solchen Debatten beteiligen würde.

STANDARD: Das ist für viele ein Problem.

Praet: Oft wird uns geraten, uns allein auf Geldpolitik zu konzentrieren. Aber in einer Währungsunion haben die Länder die Flexibilität verloren, die ein eigener Wechselkurs bietet. Solide Governance und effektive Institutionen sind also von zentraler Bedeutung. Das gilt für die Arbeits- und Gütermärkte, die Justiz und für die Verwaltungsbehörden. Das ist notwendig für eine wirksamere Geldpolitik in einer Währungsunion, und deshalb sagen wir den Regierungen, dass strukturelle Reformen wichtig sind. Dabei ist es für uns nicht von Interesse, wie Länder die Reformen durchführen. Das ist ihnen überlassen. Uns interessiert, ob sie erfolgreich sind. Allerdings möchte ich selbstkritisch anmerken, dass unsere Botschaften in der Vergangenheit zu sehr wie ein Mantra klangen.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Praet: Es gibt unterschiedliche Kombinationen von Strukturreformen, die funktionieren - es gibt kein Standardmodell. Dies müssen wir deutlich machen, weil sonst der Eindruck entsteht, dass die Bürger ohnehin keine große Wahl mehr haben. Wir müssen ihnen vermitteln, dass Reformen auch Vielfalt zulassen. Ein Beispiel: Es reicht nicht aus, öffentlich zu sagen, dass der Arbeitsmarkt eines Landes flexibler werden muss. Ansonsten verstehen die Menschen darunter nur, dass Kündigungen erleichtert werden sollen. Dabei ist das falsch. In Deutschland zum Beispiel haben die Firmen Mitarbeiter nicht entlassen, nachdem die Nachfrage infolge der Krise 2008 dramatisch zurückgegangen war. Gewerkschaften haben Lohnkürzungen oder Kurzarbeit akzeptiert und damit einen schlimmeren Einbruch verhindert. Trotz gewisser Rigiditäten in Deutschland hat der Arbeitsmarkt somit sehr flexibel reagiert.

STANDARD: Aber die EZB hat in ihrer Rolle in der Troika von Portugal oder Griechenland immer verlangt, den Kündigungsschutz zu lockern und Kollektivverträge aufzuweichen. Spielraum gab es nicht.

Praet: Unsere Aufgabe in der Troika besteht darin, die EU-Kommission bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Das ist technische Arbeit, und am Ende trifft die Eurogruppe die politische Entscheidung. Denn sie repräsentiert die gewählten Regierungen und die europäischen Steuerzahler. Auch muss klar sein, dass nicht jede politische Lösung möglich ist, da Sozialsysteme finanzierbar bleiben müssen. Dennoch hoffe ich, dass in Zukunft ein stärkerer Fokus darauf liegen wird, den Ländern mehr Ownership an Reformprogrammen zu geben, sie sollen also in Eigenregie und eigenverantwortlich handeln.

STANDARD: Sie reden von Ownership: Das heißt, dass eine Regierung, die nicht an bestimmte Reformen glaubt, diese nicht umsetzen sollte?

Praet: Ich habe Ende der 1970er-Jahre als Ökonom für den Währungsfonds gearbeitet. Damals wurden die Ansuchen um Hilfsgelder, die Letters of Intent von IWF-Mitarbeitern vorformuliert, dann aber von den betroffenen Ländern später als ihre eigenen Briefe beim IWF eingereicht. Das war natürlich ungewöhnlich, obwohl ihr Inhalt das Ergebnis von Diskussionen war. Aber der IWF gab das Geld und stellte die Bedingungen - das war das damalige Verständnis von Ownership. Ich denke, dass wir daraus gelernt haben.

STANDARD: Das heißt aber im aktuellen Falle Griechenlands: Egal, was die Linksregierung Syriza unterschreibt, es kann nicht funktionieren, solange Syriza nicht selbst daran glaubt.

Praet: Ich will wegen der laufenden Verhandlungen nichts zu Griechenland sagen. Aber für solche Situationen gilt grundsätzlich, dass gegenseitiges Vertrauen und Glaubwürdigkeit entscheidend sind. Das heißt, wenn ein Land etwas zusagt, muss es diese Zusage auch umsetzen. Je glaubwürdiger ein Land ist, desto geduldiger können Gläubiger sein und ihr Vertrauen schenken. Das gilt für alle Länder: Wenn eine Regierung Vertrauen genießt, bedeutet es nicht so viel, wenn eine vereinbarte Zahl in einem Jahr nicht exakt erreicht wird. Das Problem ist, dass die Situation verfahren wird, wenn dieses Vertrauen verlorengeht, und die Gläubiger dann darauf drängen, sofort Zahlen und Ergebnisse zu sehen.

STANDARD: Sie haben gesagt, wie wichtig Reformen aus Ihrer Sicht sind. Aber lässt sich ein Land wie Griechenland umkrempeln, während radikalst gespart wird?

Praet: Als die Krise zuschlug, erodierte das Vertrauen der Investoren in die Schuldentragfähigkeit mehrerer Länder. Die darauffolgende Anpassung der öffentlichen Finanzen wurde daher vor allem mit Blick auf die kurzfristigen Wirkungen durchgeführt. Oft wurden öffentliche Investitionen gekürzt, die Mehrwertsteuer wurde erhöht, um eine rasche Verringerung der Schulden zu erreichen, auch wenn dadurch die Wachstumsaussichten belastet wurden. Einige Länder haben gleichzeitig aber sehr wohl erfolgreich reformiert, ihre Arbeitsmärkte sind flexibler geworden, und ihre Banken wurden restrukturiert.

STANDARD: Der griechische Premier Tsipras hat diese Woche gesagt, es wäre eine Katastrophe, wenn sein Land den Euro verlässt, weil alle Welt sehen würde: Der Euro ist reversibel. Wie sehen Sie das?

Praet: Lassen Sie mich wiederholen, was Mario Draghi vor einer Woche in der Pressekonferenz der EZB gesagt hat: Der EZB-Rat will, dass Griechenland Mitglied der Währungsunion bleibt.

STANDARD: Herr Praet, wie fühlt man sich eigentlich so als Dieb?

Praet: Als Dieb?

STANDARD: Ja. So würden Sie viele in Österreich bezeichnen. Sie und Ihre EZB-Kollegen haben schließlich die Zinsen abgeschafft. Wer sein Geld aufs Sparbuch legt, bekommt dafür nichts mehr.

Praet: Ich bin mir sicher, dass die meisten Österreicher verstehen, dass unsere Geldpolitik die angemessene und notwendige Reaktion auf die schwache wirtschaftliche Lage und die außergewöhnlich niedrigen Inflationsraten ist, die weit unter dem geldpolitischen Ziel von knapp unter zwei Prozent liegen. Die niedrigen Zinsen waren für viele Sparer ein ernstes Thema. Für den Sparer sind aber nicht die nominalen Zinsen entscheidend, die wir unmittelbar beeinflussen. Für den Sparer zählen vielmehr die realen Zinsen - die Zinsen nach Abzug der Inflation. In der Vergangenheit gab es sehr lange Perioden, in denen die realen Zinsen deutlich niedriger waren als heute, einfach weil die Inflation derart hoch war.

STANDARD: Das hilft Sparern heute wenig.

Praet: Auf mittlere und längere Sicht hilft unsere Geldpolitik den Sparern sehr wohl. Wir tragen unseren Teil dazu bei, dass die Wirtschaft sich erholt. Das wird die Inflationsrate zurück auf das angestrebte Niveau bringen und in der Folge auch das Zinsniveau normalisieren. Die niedrigen Zinsen sind also für einige eine kurzfristige Belastung, aber für alle langfristig ein Gewinn. Jeder in Europa hat ein Interesse daran, dass wir aus der aktuellen Situation, die von niedriger Inflation und geringem Wachstum gekennzeichnet ist, herauskommen. Das wird gelingen. Aber die Krise war derart stark, dass dieser Prozess einige Jahre dauert.

STANDARD: Es gibt Ökonomen, die davon sprechen, dass es höhere Zinsen auf Jahre hinaus nicht geben wird.

Praet: Es gibt immer Kassandras, die alles schlechtreden, aber ...

STANDARD: Kassandra hatte recht mit ihren Warnungen.

Praet: Prophezeiungen, die Menschen verängstigen und deshalb zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden, können gefährlich sein.

STANDARD: Die EZB hat im Jänner 2015 damit begonnen, Staatsanleihen im großen Stil zu kaufen. Haben Sie irgendeinen Beleg dafür, dass dieses Quantitative-Easing-Programm inzwischen wirkt?

Praet: Ja. Der erste Effekt ist, dass wir ein klares Signal gegeben haben. Als wir die Zinsen gesenkt haben, haben sich die Kreditbedingungen für Unternehmen in einigen Ländern rasch verbessert. Jetzt, vor dem Hintergrund von Quantative Easing, haben sich die Kredite für Unternehmen und den Staatssektor insgesamt deutlich verbilligt. (András Szigetvari, 13.6.2015)