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Polizisten versuchen Demonstranten in Diyarbakir einzukesseln.

Foto: AP Photo/Emre Tazegul

Istanbul – Nach der Parlamentswahl in der Türkei hat die mühsame Suche nach einer neuen Regierung begonnen. Aus der Opposition bietet sich bisher niemand der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP als Koalitionspartner an. In der mehrheitlich von Kurden bewohnten Provinzhauptstadt Diyarbakir kam es zu Zusammenstößen mit mindestens drei Toten.

Schwierige Regierungsbildung

Die ultrarechte MHP kündigte für Mittwoch Beratungen über eine Koalition mit der AKP an. Der Vorsitzende der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtas, bekräftigte am Dienstag: "Wir werden uns an keiner Koalition beteiligen, in der die AKP vertreten ist."

Die AKP kam am Dienstag zu Beratungen zusammen, über Ergebnisse wurde zunächst nichts bekannt. Zwei Tage nach dem Wahldebakel trat AKP-Chef Ahmet Davutoglu in einer Routineprozedur von seinem Amt als Ministerpräsident zurück. Er bleibt aber auf Bitten von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bis zur Bildung einer neuen Regierung kommissarischer Ministerpräsident.

Erdogan habe das Kabinett um eine Fortführung der Amtsgeschäfte gebeten, bis eine neue Regierung gebildet sei, teilte das Präsidentenbüro am Dienstag mit. Davutoglu war zuvor eine Stunde lang mit Erdogan in dessen Palast in Ankara zusammengekommen, um die Zukunft der Regierung zu besprechen, nachdem die regierende AKP bei der Wahl am Sonntag ihre absolute Mehrheit verloren hatte. Es wird erwartet, dass Erdogan seinen langjährigen Wegbegleiter mit der Regierungsbildung beauftragen wird.

Das Einreichen eines Rücktrittsgesuchs des Kabinetts beim Staatspräsidenten nach der Wahl ist in der Türkei eine Formsache. Im Anschluss muss der Staatschef die Partei, die bei der Wahl stärkste Kraft wurde, mit der Regierungsbildung beauftragen.

Tödliche Zusammenstöße in Diyarbakir

Nach dem HDP-Wahlerfolg kam es in Diyarbakir zu tödlichen Zusammenstößen verfeindeter Gruppen. Einem Polizisten zufolge wurden drei Menschen getötet, vier Journalisten seien verletzt worden. In anderen Berichten war von vier Toten und vier Verletzten, darunter drei Journalisten, die Rede.

Zunächst hätten Unbekannte den Chef der kurdisch-islamistischen Hilfsorganisation Ihya-Der, Aytac Baran, in seinem Büro in Diyarbakir erschossen, verlautete aus Krankenhauskreisen. Das habe weitere Ausschreitungen provoziert, bei denen drei weitere Menschen getötet worden seien, hieß es aus denselben Quellen. Vier Menschen seien verletzt worden, darunter drei Journalisten.

Die Nachrichtenagentur DHA meldete wiederum, dass zunächst der Vorsitzende einer islamischen Wohlfahrtsorganisation erschossen worden sei. Augenzeugen berichteten, danach sei es zu Zusammenstößen von Anhängern der Jugendorganisation der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und der islamistischen Partei Hüda-Par gekommen. Dabei seien zwei Menschen getötet worden. Die HDP verurteilte das Attentat auf den Chef der Organisation. Die HDP steht der PKK nahe.

Nach mehr als zwölf Jahren an der Macht verlor die AKP bei der Wahl am Sonntag ihre absolute Mehrheit. Sie braucht nun einen Koalitionspartner, um regieren zu können. Auch die drei im künftigen Parlament vertretenen Oppositionsparteien haben gemeinsam ausreichend Sitze, um eine Koalition zu bilden. Sie verfolgen in wichtigen Fragen allerdings unterschiedliche Ziele. Sollte es im neuen Parlament nicht innerhalb von 45 Tagen gelingen, eine Mehrheit für eine Regierung zu finden, kann Erdogan Neuwahlen ausrufen. Er hatte die Parteien am Montag aufgefordert, verantwortungsvoll zu handeln, um die Stabilität des Landes zu gewährleisten.

Erdogan medial verstummt

Vor der Parlamentswahl war Erdogan in den Medien omnipräsent, nach der Wahlschlappe war er medial plötzlich verstummt. Zeitungen nahmen das zum Anlass, über den Präsidenten zu witzeln. Im Internet war ein Zeitmesser eingerichtet worden, der die Tage und Stunden seit dem letzten öffentlichen Auftritt Erdogans zählt. Am Dienstagnachmittag zeigte der Zähler zwei Tage, drei Stunden und zwölf Minuten "off air" an: Seit Sonntag gab es keinen Auftritt Erdogans in den Medien. Im Parlamentswahlkampf war er dagegen allgegenwärtig. Im Fernsehen wurden seine zwei bis drei Reden pro Tag live übertragen. Die Opposition schäumte, denn eigentlich ist der Präsident in der Türkei zur Neutralität verpflichtet.

Die Stimmenverluste der AKP wurden als Niederlage auch für Erdogan gewertet. Er warb im Wahlkampf für das von ihm und der AKP angestrebte Präsidialsystem mit ihm selbst an der Spitze. HDP-Chef Demirtas sagte dem US-Sender CNN, das Volk habe dem Präsidenten nun die rote Karte gezeigt.

Nach vorläufigen inoffiziellen Ergebnissen kam die AKP auf 40,9 Prozent der Stimmen, 2011 waren es fast 50 Prozent. Die Wähler erteilten damit auch dem Ziel der AKP eine Absage, eine Verfassungsänderung für Erdogans Präsidialsystem auf den Weg zu bringen. Die Mitte-links-Partei CHP erreichte 25 Prozent, die MHP 16,3 Prozent. Die HDP lag mit 13,1 Prozent deutlich über den Erwartungen und schaffte den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde. (APA, 9.6.2015)