Nach sechs Jahren Depression in Europa haben Grundsatzdebatten Hochkonjunktur: Ist der Kapitalismus am Ende? Für Ulrike Herrmann (STANDARD, 27. Mai) ist klar: "Der Kapitalismus ist zum Untergang verdammt. Er benötigt Wachstum, aber in einer endlichen Welt kann es unendliches Wachstum nicht geben ... Der Kapitalismus wird chaotisch und brutal zusammenbrechen ..." Die düstere Prognose besteht aus drei Komponenten.

Erstens: Ohne Wachstum gibt es langfristig keine positive Profitrate, dann aber schrumpfen Investitionen und Gesamtwirtschaft. Anders begründet: Ein gleichgewichtiges Nullwachstum erfordert, dass auch Netto-Investitionen und Sparen null betragen. Wegen der Ungleichheit der Einkommensverteilung und der Bedeutung des Vorsorgemotivs wird ein Teil der Einkommen gespart. Dann aber wäre die Gesamtnachfrage (Konsum) permanent kleiner als das Angebot (BIP), und die Wirtschaft schrumpft.

Zweitens: "Es fehlt die Brücke, die vom Kapitalismus in diese neue 'Postwachstumsökonomie' führen könnte." Daher der chaotisch-brutale Zusammenbruch.

Drittens: Es kann kein "unendliches Wachstum" geben. Mag sein. Wenn wir aber in den nächsten 50 Jahren ein sozial und ökologisch verträglicheres Wachstum realisieren könnten als bisher, wäre einiges gewonnen - auch Zeit, um die Debatte über "In welcher Gesellschaft wollen wir leben?" wieder zu führen lernen.

Gelänge in Europa wieder eine "Zähmung" des Kapitalismus, würde das zwingend in einem ökologischen Kollaps enden? Ich glaube nicht. Gewiss: Wird der Gebäudebestand in der EU thermisch saniert, wird ein Hochgeschwindigkeitsschienennetz geschaffen, wird massiv in das Bildungs- und Gesundheitswesen investiert, wird die Armutsbekämpfung und insbesondere die Integration von Migranten energisch in Angriff genommen, entwickelt Europa einen "Marshallplan" für die Dritte Welt (insbesondere in Afrika), dann wird die Umweltbelastung steigen. Aber gleichzeitig würden die heute bedrückendsten Probleme wie Arbeitslosigkeit, Flucht, Armut, Fremdenfeindlichkeit, Neonationalismus etc. entschärft.

Außerdem: Sollen 90 Prozent der Weltbevölkerung wenigstens jenen Lebensstandard erreichen, den die Industrieländer schon vor 50 Jahren hatten, so braucht es noch viele Jahrzehnte ein globales Wachstum. Die negativen Umweltfolgen ließen sich durch eine massive Ökologisierung des Steuersystems und durch Technologietransfer in Grenzen halten.

Umweltverschlechterung wie der Klimawandel ist ein Prozess, der nicht auf einen Totalkollaps zusteuert, sondern immer mehr Einzelkatastrophen erzeugt, und zwar in der Dritten Welt. Das wird den Kapitalismus kaum kollabieren lassen.

Schließlich: Was in der Zukunft möglich ist, können wir heute nicht wissen (da halte ich es mit Hayek), die Probleme des Heute müssen wir aber politisch bekämpfen (da nicht Hayek). Und zwar von dem ausgehend, was vorhanden ist, also evolutionär (hier wieder Hayek). Heute haben aber Konzepte zur totalen Weltverbesserung Konjunktur (Hayeks "Konstruktivismus"). Sie nähren sich von der Negation des Bestehenden: Statt Eigennutz, Gewinnstreben, Konkurrenz und Individualismus sollen Solidarität, Teilen, Kooperation und Gemeinwohl das Zusammenleben prägen. Das Geldwesen muss fundamental erneuert werden (Vollgeld), Zins wird abgeschafft.

In der letzten großen Krise wussten die meisten Intellektuellen: Der Kapitalismus ist am Ende. Linke Theoretiker wie Otto Bauer lehnten daher Programme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ab. Es waren bürgerliche Ökonomen und Politiker wie Keynes oder Roosevelt, denen eine Zähmung des Kapitalismus und (damit) die Milderung des gegenwärtigen Leidens wichtiger waren als eine Generalverbesserung der Welt. Und siehe da: Statt unterzugehen, zeigt sich der Kapitalismus zwischen 1950 und 1970 in einer neuen Gestalt, gezähmt durch die Politik. Seit den 1970er-Jahren haben ihn die Theologen des Markts allerdings wieder ent-fesselt.

Es gibt also nicht den Kapitalismus, sondern je nach "Zähmung" verschiedene Varianten: Das Europäische Sozialmodell der 1950er- und 1960er-Jahre kombinierte etwa Regulierung der Finanzmärkte (" Realkapitalismus"), Sozialpartnerschaft und Sozialstaatlichkeit, China forciert hingegen eine rein realkapitalistische Variante.

Ende im Finanzdesaster

Der ungezügelte Kapitalismus endete in der Geschichte immer in einem Finanzdesaster. Mit der Dynamik der Realkapitalbildung wächst der Reichtum und damit die Versuchung, diesen durch Finanzspekulation zu vermehren (von den holländischen Republiken des 17. Jahrhunderts bis zur Entwicklung der letzten 30 Jahre). So werden immer mehr Vermögenstitel geschaffen, die keine realwirtschaftliche Deckung aufweisen. Die Korrektur - durch Aktiencrashs, Bankenpleiten oder Staatsbankrott - führt in die Krise.

Mit der Abschaffung der Staatsgarantie für Spareinlagen und der Ankündigung, dass künftig die Gläubiger der Banken - auch Sparer - zur Kasse gebeten werden (sie werden mit Bankaktien entschädigt), bereitet sich die Politik auf die kommende Finanzschmelze vor.

Danach wäre die Zeit für eine neuerliche Zähmung des Kapitalismus gekommen. Besser, als das (unartige) Kind mit dem Bade auszuschütten - solange kein anderes heranwächst. (Stephan Schulmeister, 5.6.2015)