Die Vorstellung hat einen gewissen Reiz: Massen von Empörten führen mit Sonderzügen nach Eisenstadt, zögen skandierend durch die Fußgängerzone, die Johann-Permayer-Straße entlang, vorbei am verabscheuungswürdigen Roten Haus, der Parteizentrale der - "Wer hat uns verraten?" - pannonischen Sozialdemokraten, bis hin vors längst schon zernierte Landhaus. Manch Unbedachtes gösse sich dort dann in Parolen. Wäre das Herz voll, ginge der Mund ja leicht über. Schließlich ist es nicht bloß das Recht der Jugend, sich im Ton zu vergreifen. Sondern ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit.

Aber keine Angst. Nichts von dem wird geschehen. Nicht im Burgenland, nicht wegen sowas, und parteiintern schon gar nicht. Da tut man höchstens seinen Unmut kund. Und zwar im streng übertragenen Sinn: Un-Mut.

Als der STANDARD dieser Tage seine Ohren an die junge pannonische Sozialdemokratie legte, um der auf der Hand liegenden Frage Wer? Warum? Wozu? nachzugehen, wurde ihm von einem jungen Mann beschieden, es werde diesbezüglich schon demnächst ein deutlich formuliertes Statement der Sozialistischen Jugend des Burgenlandes geben, "das die Beschlusslage klar widerspiegelt".

1986 begründete Jörg Haider in Innsbruck den anmaßenden Rechtspopulismus. Seit damals weiß das politische Establishment, dass darauf Antworten zu geben wären. Nur halt nicht, welche.
Foto: Christian Fischer

Die menschenleere Permayer-Straße entlangschlendernd, erschien dem STANDARD das eben geführte Gespräch bereits einige Augenblicke danach in hohem Maße unwirklich. Hat dieser junge Mann, eine vielversprechende Nachwuchshoffnung, tatsächlich von "Beschlusslage" gesprochen? Kann es sein, dass einer in seinen lebensprallen Zwanzigern den wohl auch ihm gewachsenen Schnabel bereits derart am Wetzstein der Partei zugeschliffen hat? Und ist das - "Beschlusslage!" - nicht schon ein entscheidender Teil der Antwort auf jene Frage, die sich nun wieder ganz Österreich stellt: Was ist mit diesem Land los? Warum wählen so viele die FPÖ? Und zwar ausdrücklich gegen die immer noch gültige Beschlusslage, sie für eine widerlich hetzende, neonazistische Buberlpartie zu halten, die eindrucksvoll ihre Regierungsunfähigkeit unter Beweis gestellt hat.

Es zählt zweifellos zu den erstaunlichsten Phänomenen österreichischer Zeitgeschichte, dass seit dem Jahr 1986 das politische Establishment versichert, verstanden zu haben, auf rechtspopulistische Allotria eine Antwort finden zu müssen. Jörg Haider hatte damals, auf dem FPÖ-Parteitag zu Innsbruck, die rot-blaue Bundesregierung in die Luft gesprengt. Der erst kurz amtierende Bundeskanzler Franz Vranitzky kündigte die rot-blaue Koalition mit dem Argument, solch ein Gedankengut nicht dulden zu dürfen. Aus den folgenden Wahlen ergab sich eine große Koalition. Und die wusste, dass es nun galt, sich zusammenzureißen.

Allseitiges Maulheldentum

Mit dem bekannten Ergebnis. Die FPÖ wurde, wenn auch nicht wirklich stark, so doch stärker. Und zwar selbst dann, wenn sie nachdrücklich unter Beweis stellen durfte, weder das Regieren noch das zumindest teilweise Einhalten von Wahlversprechen zu beherrschen. Sie pflegt bis heute ein veritables Maulheldentum. Da sind die Blauen allerdings nicht die Einzigen.

Im Pendelschlag bewiesen nämlich die Roten und Schwarzen ihrerseits immer wieder aufs Neue ihre Lernresistenz. Den Umstand, dass es die FPÖ aufgrund ihrer Beteiligung an der Bundesregierung zerrissen hat, nutzten die Großkoalitionäre ab 2006 dazu, auf beinahe unverfrorene Weise alles - vom Kammerstaat bis zum Klientel-Nepotismus - beim Alten zu lassen. Obwohl - Alfred Gusenbauer wird sich wohl noch erinnern - die Beschlusslage eine ganz andere gewesen ist.

Man ist, so macht es ganz den Eindruck, müde geworden aneinander. Gerade dass man sich aufrafft, um die Schäfchen ins Trockene zu bringen. Erstaunlicherweise wirken zuweilen auch die Grünen ermattet. In manchen Bereichen pflegen sie ein geradezu Pippi-Langstrumpf-haftes, kräftesparendes Weltbild. Sie waren und sind die Ersten, die den sogenannten Tabu- schon für eine Art vorgezogenen Rechtsbruch ansehen, was nicht nur eine moralinsaure Selbsterhöhung ist, sondern ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass man die Politik von der Tat- auf die Symbolkraft zu verlagern gedenkt.

"Ich mach mir die Welt - widewide wie sie mir gefällt." Ganz unrecht hat Hans Niessl ja nicht, wenn er im Falter feststellt, die politische Schwerpunktdebatte ums Ampelmännchen und -weibchen interessiere in der Stadt nur wenige, auf dem Land aber überhaupt niemanden. Doch mit dieser Frage war Niessl - den Vorwurf wird er sich wohl gefallen lassen müssen - nicht in den Gremien. Weil die dortige Beschlusslage - frage nicht!

Foto: Christian Fischer

Wider das Ärmelaufkrempeln

Es ist ein Totschlagargument, zu sagen, ein bestimmtes Thema (Ampelmännchen, Binnen-I, Lehrerarbeitszeit) sei im Vergleich zu anderen (rasant steigende Arbeitslosigkeit, stagnierende Wirtschaft, überbordende Staatsschulden) vernachlässigbar. Alle Themen als weitgehend gleichrangig zu erachten ist freilich seinerseits ein Totschlagargument gegen das Ärmelaufkrempeln. Gestaltungswillige Politik benötigt eine Prioritätenliste, um den jetzigen Zustand zu vermeiden. Ganz abgesehen davon, dass an den Stammtischen - deren Oberhoheit man naserümpfend ja eh nicht einmal mehr anstrebt - die Frage, ob wir nicht andere Probleme hätten, sowieso nur noch als rhetorische gestellt wird.

Es wird interessant sein zu verfolgen, wie die burgenländischen Roten und Blauen sich diesbezüglich aufstellen. Versprochen haben sie ein konkretes Arbeitsprogramm. An ihrer To-do-Liste werden sie zu messen sein und an der Entschlossenheit, sie umzusetzen. Und zwar im Rahmen des geltenden Rechts, was die Blauen zum Beispiel nötigen wird, ihr Gefeixe gegen die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit auf jenes Maß herunterzustutzen, auf das der diesbezüglich ebenfalls patzige Hans Niessl sich auch abzuregen haben wird.

Die flügelschlagende Erregtheit angesichts blauer Regierungsbeteiligung - auch medial darf man sich da durchaus an die Brust klopfen - erschwert es allerdings, das politische Handwerk bloß als politisches Handwerk zu begreifen. Es wären ja wirklich wirkliche Dinge zu erledigen. Auch und gerade solche, die sich tatsächlich auf Landesebene erledigen ließen. Sich an Brüssel abzuarbeiten in Eisenstadt wird zu wenig sein. Hochinteressant wird es etwa sein, zu beobachten, wie sich die pannonischen Blauen an den Futtertrögen der Landesnähe verhalten.

Niessl-Tschürtz-Kurs

Am Umgang damit wird man den Niessl-Tschürtz-Kurs zu bewerten haben. Die von vielen Seiten geschürte Angst, die Ausländerhetze werde nun pannonische Regierungslinie, übersieht nonchalant den Umstand, dass es zum Beispiel eine der ersten Maßnahmen der schwarz-blauen Bundesregierung gewesen ist, eine anständige Restitutionsregelung zu beschließen. Und damit erst jene Schande zu beseitigen, für die der rote Innenminister der Nachkriegszeit - der Burgenländer Oskar Helmer - hauptverantwortlich gewesen ist.

Der Hinweis soll das tatsächlich Widerliche an der FPÖ, die unbestrittene Partei-Neigung, aus dem Gegeneinander-Ausspielen und dem Aufeinander-Hetzen politischen Profit zu ziehen, keineswegs relativieren oder gar schönreden. Sich an sowas zu erinnern hilft aber vielleicht dabei, die Kirche im Dorf zu lassen. Und auch vielleicht den Umstand zu respektieren, dass diese Partei von doch einem gerüttelt Maß Wahlvolk gewählt worden ist. Im Burgenland übrigens von bloß 15 Prozent, was die rote Absicht, die Blauen zu derreiten, einigermaßen erleichtert. Hermann Schützenhöfer, der schwarze Parteichef in Graz, dem Koalitionsgelüste mit den 26-Prozent-Blauen nachgesagt werden, würde es da schwerer haben.

Im Jahr 1986, als Jörg Haider den FPÖ-Chef und Vizekanzler Norbert Steger ablöste - oder, wie es damals dramatisierend hieß, hinwegputschte -, versprachen die etablierten politischen Kräfte, eine Antwort auf den nun allmählich anmaßend auftretenden rechtsauslegenden Populismus zu finden. Die Wahrheit ist: Sie haben sie nicht einmal gesucht. Mag sein, es gibt gar keine.

Dort, wo die Johann-Permayer-Straße die Bürgerspitalgasse kreuzt, steht, etwas erhöht, das burgenländische Landhaus. Im ersten Stock, in der Aula vorm großen Sitzungssaal, hängen die Porträts aller gewesenen Landeshauptmänner. Und daneben, hinter einer Bronzebüste, eine Marmortafel. An der müssen alle Abgeordneten und Regierungsmitglieder unweigerlich vorbei.

Der eine oder die andere hat das Verslein des burgenländischen Dichters Josef Hochleitner wohl auch gelesen. "Die Liebe des Volkes leiht auch dem schlichtesten Manne das Zepter - die Liebe zum Volk allein wahrt ihm die ehrende Macht." Vielleicht sollte man sich in den Gremien manchmal elegische Distichen vorlesen. (Wolfgang Weisgram, 6./7. Juni 2015)