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Zhang Xianling, eine der Mütter des Tiananmen, zeigt ein Foto ihres verstorbenen Sohnes. Sie wird rund um die Uhr bewacht und darf nicht von Journalisten besucht werden.

Foto: Reuters/Kujundzic

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Darüber, was am 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz passierte, wird in China der Mantel des Schweigens gehüllt.

Foto: APA/EPA/Dela Pena

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In Hongkong kann ein Gedenkmarsch abgehalten werden.

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"Wider das Vergessen der Verbrechen!" – Der beherzte Aufruf nimmt Bezug auf das 70. Gedenkjahr des Sieges über den Faschismus und der Kapitulation Japans und kommt aus der chinesischen Hauptstadt. Doch darf er dort nicht veröffentlicht werden. Die Verfasser und Unterzeichner eines am 1. Juni ins Internet gestellten "Offenen Briefes" an Chinas Führung sind 129 Frauen und Männer im Rentenalter. Fast alle leben in Peking. Ihre Telefone werden in diesen Tagen von der Polizei abgehört. Einige der Alten dürfen ihr Haus nicht verlassen.

Sie nennen sich die "Mütter des Tiananmen", obwohl auch Väter darunter sind, und haben seit 20 Jahren ein gemeinsames Anliegen. Sie wollen nicht zulassen, dass die Geschehnisse des 4. Juni 1989 vergessen werden. Damals räumten Soldaten auf Befehl der Pekinger Führung den von Studenten besetzten Platz des Himmlischen Friedens. Auf dem Weg dorthin schossen sie entlang ihrer Marschroute wahllos auf Passanten. Die Kinder der "Mütter" starben in der Nacht auf den 4. Juni, wurden Opfer eines Massakers, das unter dem Namen Tiananmen noch heute weltbekannt ist.

Ereignisse werden totgeschwiegen

Doch in China gibt es kein größeres Tabuthema. Die Partei lässt jede Erinnerung im Keim tilgen. Unter Parteichef Xi Jinping und seiner "neuen Normalität" sei das noch stärker der Fall, heißt es in dem chinesischen Schreiben. Die nach 1989 geborene Jugend Chinas könne weder aus Büchern, Zeitschriften noch aus dem Internet etwas über den 4. Juni erfahren. Die Pekinger Führung habe die eigene Geschichte zum "weißen Blatt" gemacht. Darin zeige sich ihre Doppelmoral. 70 Jahre nach dem Ende des Krieges verlange sie von Japans Politikern tätige Reue und Vergangenheitsbewältigung. Premier Li Keqiang habe auf dem Volkskongress im März gesagt: "Ein Staatsführer darf sich nicht nur auf die Erfolge seiner Vorgänger berufen, sondern muss auch die historische Verantwortung für deren Verbrechen übernehmen." Li hätte nur Regierungschef Shinzo Abe gemeint und sich nicht eingeschlossen.

Zwar stimmen die "Mütter des Tiananmen" der Kritik zu, dass sich Abe nicht aus der Verantwortung für Japans monströse Verbrechen flüchten dürfe. Nach der "gleichen Logik" müssten dann aber auch Pekings heutige Führer für alle Verbrechen die Verantwortung übernehmen, die ihre Vorgänger anrichteten. Im Brief werden die Verfolgungskampagnen genannt, in denen in der Volksrepublik Millionen Menschen totgeschlagen oder in den Selbstmord getrieben wurden, von der "Bodenreform," dem Großen Sprung nach Vorn und der Hungerkatastrophe, von der Kulturrevolution 1966 bis 1976 bis zum "Massaker des 4. Juni."

Kein Kontakt zur Außenwelt

Die mutigen Bürgerrechtler, die solche Briefe schreiben, begehen 2015 ein Jubiläum, bei denen ihnen nicht zum Feiern zumute ist. Vor genau 20 Jahren entstand die Angehörigen-Initiative, die inzwischen zum Kandidaten für den Friedensnobelpreis geworden ist. Ab 2000 gab sie sich den Namen "Mütter des Tiananmen" als Sammlungsbewegung für die Hinterbliebenen der Opfer des Militäreinsatzes 1989. Ihre Gründerin wurde die heute 79-jährige ehemalige Philosophiedozentin an der Volksuniversität Peking, Ding Zilin. Ihr 17 Jahre alter Sohn starb in der Nacht auf den 4. Juni in Peking. Ding wird derzeit in ihrer Wohnung, wo sie für die Asche ihre Sohnes einen Gedenkaltar gebaut hat, wieder einmal rund um die Uhr von Behörden bewacht, die ihr jeden Kontakt zur Außenwelt verwehren, bis das heikle Datum 4. Juni vorbeigegangen ist.

Trotz Einschüchterungen schlossen sich den "Tiananmen-Müttern" 150 Angehörige an. Jahr um Jahr schrieben sie Briefe an Partei, Regierung und Parlament, forderten Rehabilitierung und riefen zum Dialog auf. Sie nennen den 4. Juni keinen "Fehler" der Partei, wie es Verharmloser im Ausland gerne tun, sondern ein "Verbrechen am Volk". Sie fordern Peking im jüngsten Brief auf, "eine neue Untersuchung anzustrengen, die Namenslisten und Zahlen aller Getöteten zu veröffentlichen, die Angehörigen über die Einzelfälle aufzuklären, für Entschädigung zu sorgen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Zwei Gruppen haben das unterschrieben. Neben den 129 heute lebenden Angehörigen sind stellvertretend weitere 37 Gründungsmitglieder aus der Initiative aufgeführt, die inzwischen gestorben sind.

Verstärkte Überwachung

Viele der "Mütter" hatten auf die Amtsübernahme von Staats- und Parteichef Xi Jinping Hoffnungen für einen neuen Anfang und Dialog gesetzt. Doch schon in seinem ersten Amtsjahr erkannten sie ihren Irrtum. Im offenen Brief im Juni 2013 hieß es, dass viele "plötzlich enttäuscht und deprimiert sind." Was bei Xi erkennbar sei, "sind Riesenschritte zurück in die maoistische Orthodoxie". Heute schreiben sie, dass ihre Überwachung intensiver wurde. Früher hörte die Polizei nur ihre Telefonate ab. Seit Anfang 2015 installierten sie bei manchen Angehörigen heimlich Abhöranlagen in den Wohnungen.

Wie viele Menschen in der Nacht auf den 4. Juni starben ist bis heute ein Staatgeheimnis geblieben. Die Mütter konnten 203 Todesfälle dokumentieren mit Namen des Getöteten, dem Ort und wie er starb. Ding Zilin schätzte einst die Zahl der nur in der Nacht auf den 4. Juni um Leben gekommenen Personen auf über 1.000. Sie veröffentlichte in Hongkong dazu auch das Buch "Suche nach den Opfern des 4. Juni" mit Biografien von 186 der Getöteten. (Johnny Erling aus Peking, 4.6.2015)