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Ehe Robinson Crusoe auf der Insel, seiner Insel, landete, war er zwei Jahre lang als Sklave in Marokko. Ein Detail, das Daniel Defoe nur am Rande beschreibt.

Illu.: Corbis

Innsbruck – Robinson Crusoe lebte nach einem Piratenüberfall zwei Jahre lang als Sklave in Marokko, bevor er flüchten konnte und auf seiner einsamen Insel landete. Ein weitgehend unbekanntes Detail, dem Daniel Defoe in seinem legendären Abenteuerroman nicht viel Raum gibt, dennoch erzählt gerade dieser Aspekt in Crusoes Leben von einer damals durch- aus nicht seltenen Erfahrung. Als der Roman 1719 erschien, waren nämlich die Piraterie im Mittelmeer und die damit verbundene Versklavung und Verschleppung der Christen noch in vollem Gang.

Schon die alten Griechen und Römer pflegten mit Begeisterung die Piraterie, die mit den sogenannten Barbareskenstaaten, zu denen das Sultanat Marokko sowie Algier, Tunis und Tripolis gehörten, ab dem 16. Jahrhundert eine neue Dimension erreichte. Diese Staaten finanzierten sich durch das Kapern von Schiffen und Überfälle auf küstennahe Dörfer sowie den damit verbundenen Menschenraub.

"Mehrere Hunderttausend europäische Männer und Frauen sind auf diese Weise versklavt worden", vermutet der Innsbrucker Kulturhistoriker Mario Klarer. In einem vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierten Projekt analysiert er gemeinsam mit seinem Team am Institut für Amerikastudien der Universität Innsbruck Berichte von aus muslimischer Gefangenschaft freigekauften Christen.

150 Berichte verschleppter und versklavter Menschen in unterschiedlichsten Sprachen haben die Forscher bisher gesammelt. Diese Texte stammen zum Großteil von freigekauften Sklaven, die wegen der zu erwartenden Lösegelder dem meist tödlichen Galeerendienst entgingen. In den katholischen Ländern hat sich der Mönchsorden der Trinitarier auf den Freikauf christlicher Sklaven spezialisiert, in protestantischen Gegenden gab es eigene "Sklavenkassen", eine Art Versicherung gegen diese häufigen Entführungen.

Einer der Freigekauften war übrigens der spanische Dichter Miguel de Cervantes, der fünf Jahre als Sklave in Algerien verbrachte. Bemerkenswerterweise habe es auch mehr oder weniger "freiwillige" europäische Sklaven in Nordafrika gegeben, erzählt Mario Klarer dem STANDARD.

Ein versklavter Verbrecher

"Viele Verbrecher emigrierten als Söldner in den Oran, wo es eine christliche Kampftruppe ähnlich der Fremdenlegion gab", berichtet der Forscher. "Dort herrschten aber derart schlimme Zustände, dass etliche nach Algerien flüchteten, wo sie dann versklavt wurden." Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff basiert auf der wahren Geschichte eines nach Nordafrika geflüchteten und dort versklavten Mörders, der nach Jahrzehnten als körperlich und psychisch zerstörter Mensch in seine Heimat zurückkehrt.

Die abenteuerlichen Berichte befreiter christlicher Sklaven hatten freilich noch mehr Einfluss auf die europäische Literatur. Die 1741 veröffentlichte wahre Erzählung der beiden nach Algerien verschleppten Wolffgang-Brüder etwa ist stilistisch stark an Robinson Crusoe angelehnt.

Während ihrer Gefangenschaft wurden die beiden jungen Männer als "Haussklaven" eingesetzt, mussten dem Herrscher in allen Belangen dienen, bevor sie ihr Vater nach einigen Jahren endlich freikaufen konnte.

Wie ein fantastischer Abenteuerroman liest sich auch der frühe Bericht des Danziger Kaufmannssohns Balthasar Sturmer aus den 1530er-Jahren. Selbst im einträglichen Piratenmetier tätig, wird sein Schiff von türkischen Korsaren gekapert, und Sturmer erlebt als Galeerensklave die Eroberung zahlreicher "Christen-Schiffe" sowie die Belagerung von Tunis 1535 durch Karl V. mit. Er kann zu den spanischen Truppen fliehen, geht später erneut der Piraterie nach und landet schließlich als reuiger Sünder in der Heimat.

Wenig Berichte von Frauen

"Von den rund 150 Berichten stammen nur zehn von Frauen", berichtet Mario Klarer. "Und selbst die sind oft nicht authentisch." Die in den Orient verschleppte christliche Schöne wurde allerdings zum beliebten Topos in der Kunst: Man denke etwa an Mozarts Entführung aus dem Serail oder Rossinis Italienerin in Algier. In der Realität waren entführte Christinnen mit einem unlösbaren Problem konfrontiert: Um ihr Leben zu retten, mussten sie konvertieren und einen Moslem heiraten.

Konnten sie freigekauft werden, verhinderte das jedoch ihre Wiedereingliederung in die christliche Gesellschaft. Sklaverei-Berichte von Frauen sollten deshalb vor allem klarstellen, dass sie sich nicht mit muslimischen Männern eingelassen hatten. Auch in Wolfgang Amadeus Mozarts Entführung spielen Konstanzes Standhaftigkeit und Treue zu ihrem Verlobten eine ganz zentrale Rolle.

Sowohl für befreite Männer als auch für Frauen hatten ihre veröffentlichten Aufzeichnungen aber noch eine andere wichtige Funktion: Sie sollten bei den Lesern die Spendenbereitschaft für den Freikauf weiterer christlicher Sklaven fördern.

Erst Anfang des 19. Jahrhunderts konnte die Piraterie im Mittelmeer durch das militärische Eingreifen der USA beendet werden. Bis dahin musste die junge Nation oft bis zu 20 Prozent ihres Staatseinkommens allein für Schutzgelder ausgeben.

Demnächst werden die Innsbrucker Forscher einen Sammelband mit Aufsätzen internationaler Experten zu diesem noch wenig erforschten Thema herausbringen: "Darunter sind auch Texte, die sich mit der muslimischen Sicht der Mittelmeer-Piraterie beschäftigen", so Mario Klarer. "Allerdings gibt es dazu wenig Material, da es im arabischen Raum zu dieser Zeit nur wenige Druckwerke gab und Handschriften viel leichter verlorengingen."

Auf die Edition der Sklaven-Berichte selbst wird man allerdings noch etwas warten müssen, bis dato liegen nämlich erst zwei Drittel der Texte in englischer Übersetzung vor. Für eine internationale Konferenz zu diesem Thema 2016 in Innsbruck laufen die Vorbereitungen aber bereits auf Hochtouren. (Doris Griesser, 5.6.2015)