Die Auswertung großer Datenmengen ist eine enorme Chance für das Gesundheitssystem.

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Die anonymisierte Analyse riesiger Datenpools in Sachen Gesundheit soll neues Wissen für Medizin und Gesundheitspolitik bringen. Die Stichworte dazu heißen "Komplexitätsforschung und Big-Data-Revolution", wie der Wiener Experte Peter Klimek (MedUni Wien) Sonntagabend bei seinem Eröffnungsvortrag zu den Österreichischen Ärztetagen in Grado betonte.

Große Datenpools

"Die Lebenserwartung steigt, ebenso die Anzahl der Jahre mit Krankheit. Die Produktivität bei neuen Medikamenten hat abgenommen. Die Entwicklung eines neuen Arzneimittels kostet schon rund fünf Milliarden US-Dollar (4,56 Mrd. Euro). Die Fehlerrate bei klinischen Studien beträgt derzeit 95 Prozent. Das Wachstum der Gesundheitsausgaben ist weltweit höher als das BIP-Wachstum. Wir müssen etwas anders machen", sagte Klimek.

Ein zusätzliches Werkzeug zu größerer Effizienz in der Medizin und in der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens könnte laut dem Experten die Analyse komplexer Sachverhalte unter Verwendung von großen Datenpools sein, die zu einem guten Teil sowieso schon vorliegen.

Informationen über die Leistungserbringung (Diagnose, Therapie) in den Krankenhäusern, Verschreibungsdaten niedergelassener Ärzte über jahrelange Zeiträume hinweg, Informationen zu den Überweisungen von Allgemeinmedizinern an Fachärzte und Ambulanzen, Zusammenhänge zwischen dem Auftreten verschiedener Erkrankungen, sozialdemografische Informationen.

Gemeinsame Analyse

Die moderne EDV erlaubt es, alle diese Informationen mit geeigneter Software unter gewünschten Gesichtspunkten gemeinsam zu analysieren. Erst vor kurzem haben Klimek und seine Co-Autoren zwei erste wissenschaftliche Arbeiten zu typischen Komorbiditäten im Leben der Österreicher veröffentlicht.

In einer Unterteilung nach Altersgruppen zeigte sich zum Beispiel: Kinder im Alter von null bis acht Jahren bekommen typischerweise Probleme mit den Mandeln, das Erstauftreten von Epilepsien ist ebenfalls relativ häufig. Zwischen neun und 16 Jahren nimmt die Dichte des "Krankheits-Netzwerkes" ab. In der Altersgruppe zwischen 33 und 40 tauchen dann zum ersten Mal Kreislauferkrankungen auf, ebenso Brust- und Prostatakrebs.

Die Altersgruppe zwischen 41- und 48 Jahren bekommt es in Österreich schließlich erstmals mit dem Metabolischen Syndrom (Übergewicht, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen) und mit gastrointestinalen Erkrankungen zu tun.

Zwischen 49 und 56 Jahren entwickeln sich daraus die Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit Infarkten, Schlaganfällen etc. Während in der darauf folgenden Altersgruppe (57 bis 64) die einzelnen Krankheits-Cluster dichter werden, aber noch getrennt zu sehen sind, wächst die Krankheitslast mit COPD, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose etc. danach immer mehr zusammen.

Daten für Prävention

Die neuen Erkenntnisse durch die Analyse von "Big Data"-Pools kann man zum Beispiel in der Prävention anwenden. "Wir können 85 bis 95 Prozent der Krankheitsinzidenz (Häufigkeit) innerhalb von zehn Jahren vorausberechnen", sagte Klimek. So könnte man beispielsweise viele der "vorprogrammierten" chronischen Erkrankungen beim Auftauchen ihrer Vorläufer noch verhindern bzw. zumindest deren Entstehen bremsen und zeitlich nach hinten verschieben.

Aus der Analyse historischer Daten lassen sich auch frappierende Erkenntnisse zu bisher kaum belegbaren ursächlichen Beziehungen zwischen Lebensumständen und in der Generationenfolge auftretenden Erkrankungen ziehen.

So zum Beispiel fanden die Wiener Wissenschafter heraus, dass Kinder, welche von Müttern unmittelbar nach den Hunger- bzw. Mangelernährungsperioden 1918/1919, 1938 und um 1946 geboren wurden, ein deutlich erhöhtes Diabetes-Risiko aufwiesen. Die Mangelernährung der Mütter wirkte auf deren Kinder weiter. Das zeigt, dass Kinder schon im Mutterleib auf spätere Erkrankungen "vorbereitet" werden können.

Vererbung vs. Umwelteinflüsse

Auch "Beipackzettel der Zukunft" wären über die neuen Analysen möglich: So zum Beispiel zeigte die Analyse von Verschreibungs- und Krankheitsdaten, dass offenbar bestimmte bei Typ-2-Diabetes verwendete Medikamente (Sulfonylharnstoffe) häufiger mit folgenden Krebserkrankungen in Verbindung stehen als zum Beispiel der Wirkstoff Metformin. Eine andere Erkenntnis, die der Experte feststellte: "Gehirntumore sind offenbar rein genetisch bedingt. Krankheiten wie Morbus Hodgkin oder Hautkrebs werden überwiegend durch Umwelteinflüsse verursacht."

Ein ganz anderes Anwendungsgebiet ist die Strukturplanung im Gesundheitswesen. Hier kann mit "Big Data" aus den Krankenhäusern, Ambulanzen, den Überweisungsdaten von Allgemeinmedizinern und Fachärzten, das Netzwerk abgebildet werden, in dem sich in ganz Österreich, im jeweiligen Bundesland und/oder in der jeweils untersuchten Region die Gesundheitsversorgung abspielt. Erstmals lässt sich das auch quantitativ darstellen.

Gatekeeping durch Hausärzte

Anhand der Daten von 12.000 österreichischen Anbietern von Gesundheitsleistungen (Allgemeinmediziner, Fachärzte, Ambulanzen, Spitäler, Kinderärzte) aus dem Jahr 2006 konnten Klimek und seine Co-Autoren zum Beispiel zeigen, dass häufig die Gatekeeper-Funktion der Hausärzte durchaus funktioniert - allerdings nicht im "Speckgürtel" rund um Wien. Dort findet vermehrt eine völlig unstrukturierte Inanspruchnahme der verschiedenen Ebenen des Gesundheitswesens statt.

Allen Beteiligten ist klar, das bei "Big Data" auf jeden Fall ein erheblicher Anteil der Informationen nicht richtig ist. Doch das kann man herausrechnen. "Wenn 20 Prozent der Diagnosen nicht stimmen, kürzen sie sich insgesamt heraus", sagte Klimek. Irrtümer oder Fehlangaben in alle Richtungen bilden da ein "Grundrauschen", das durch die Millionen anderen Daten an Gewicht verlieren.

Klimek hat diese Methoden übrigens auch mit den Informationen aus der letzten Präsidentschaftswahl in Russland mit Wladimir Putin als Gewinner in einer Analyse angewendet. Fazit: Alles deutete auf "sehr starke Unregelmäßigkeiten" hin. Auch bei Wahlen mit den Informationen von Millionen Menschen verrät die komplexe Datenanalyse bis dahin nicht dokumentierbare Hintergründe. (APA, derStandard.at, 1.6.2015)