Nach dem Ersten Weltkrieg, der Millionen europäischer Zivilisten durch feindliche Besetzung oder Deportation aus ihren Heimatländern zu Vertriebenen machte, wurde ein internationales System entwickelt, um effektive Reaktionen zu koordinieren und das Leid der Entwurzelten zu lindern. Ein Jahrhundert später ist eine andere Flüchtlingskrise im Gange, und diesmal ist es Europa, das die Macht hat, verzweifelten Menschen eine sichere Zuflucht zu bieten. Doch es hat sich der Situation nicht gewachsen gezeigt, und viele seiner Reaktionen sind der Dringlichkeit der Lage nicht gerecht geworden.

Allein in den ersten paar Monaten dieses Jahres haben mehr als 38.000 Menschen versucht, durch Überquerung des Mittelmeers von Nordafrika aus Europa zu erreichen. Etwa 1800 von ihnen sind dabei gestorben - mehr als doppelt so viele wie im Gesamtjahr 2013.

Enttäuschenderweise reagieren viele Europäer auf die humanitäre Krise, indem sie Widerstand dagegen leisten, dass ihre Länder weitere Flüchtlinge aufnehmen. Wie schnell wir unsere Vergangenheit vergessen.

Obwohl es manchmal schwierig ist, die Triebkräfte, die Menschen zum Verlassen ihrer Heimat bewegen, zu unterscheiden, zeigen Daten der Uno, dass mindestens die Hälfte derjenigen, die versuchen, von Nordafrika aus nach Europa zu gelangen, vor Krieg und Verfolgung flüchten. Die Internationale Organisation für Migration hat gemeinsam mit der italienischen Marine ermittelt, dass die Migranten heuer überwiegend aus Eritrea, Gambia, Nigeria, Somalia und Syrien kommen - Ländern, wo die Zustände die Bürger zur Beantragung von Asyl berechtigen.

Dies ist keine Einwanderungs-, sondern eine Flüchtlingskrise, und sie zeigt keine Anzeichen der Verlangsamung. Tatsächlich scheint sich angesichts der Instabilität und Gewalt, unter denen weite Teile Nordafrikas und des Nahen Ostens leiden, der Rückgang bewaffneter Konflikte seit dem Zweiten Weltkrieg verlangsamt zu haben - und er könnte sich sogar umkehren.

Die internationale Gemeinschaft ist rechtlich verpflichtet, Menschen, die durch Konflikte und Verfolgung zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen sind, zu schützen. Angesichts der europäischen Geschichte und Werte - von der Nähe zu einigen der schwer geprüften Bevölkerungen gar nicht zu reden - hat Europa besondere Verpflichtung, dabei mitzuwirken.

Aber Europa ist nicht die einzige Region, die durch die heutigen Migrationsströme belastet ist - und nicht einmal die am schwersten betroffene. Neun von zehn Flüchtlingen verlassen ihre Region gar nicht, sondern flüchten in Länder, die ihrem Heimatland nahe sind oder direkt an dieses grenzen. Das jordanische Flüchtlingscamp Zaatari allein beherbergt über 82.000 Menschen; wäre es eine offizielle Stadt, würde diese zu den bevölkerungsreichsten des Landes gehören. Der Libanon - ein Land mit nur 4,5 Millionen Menschen - hat schätzungsweise 1.116.000 Flüchtlinge aufgenommen; das entspricht in etwa der Bevölkerungszahl von Brüssel.

Vor diesem Hintergrund ist es schwer, das Versäumnis Europas zu rechtfertigen, sich auf ein System der Umverteilung und Umsiedlung für vielleicht in diesem Jahr 20.000 Flüchtlinge zu einigen, die gemäß individuellen Quoten unter 28 Ländern aufzuteilen wären. Tatsächlich haben viele europäische Länder bisher kaum Flüchtlinge aufgenommen, was ihre Untätigkeit noch unverständlicher macht. Spanien und Griechenland etwa haben jeweils nur etwa 4000 akzeptiert - im Vergleich zu Jordanien oder dem Libanon eine armselige Menge.

Eine Übereinkunft auf Quotenbasis könnte helfen, die Belastung auf die europäischen Länder zu verteilen. So, wie es jetzt ist, haben die großen Unterschiede in der Asylpolitik der verschiedenen Länder große Ungleichgewichte bei den Flüchtlingszahlen zur Folge. Tatsächlich haben nur vier Länder - Deutschland, Frankreich, Italien und Schweden - zwei Drittel aller in Europa im letzten Jahr anerkannten Flüchtlinge aufgenommen.

Europa kann nicht einfach wegschauen, während ein Netz von Menschenhändlern das Mittelmeer in ein Massengrab verwandelt. Statt zerstörerischem Populismus und ehrlosem Isolationismus nachzugeben, müssen sich die europäischen Regierungen zu ihrer rechtlichen und moralischen Verantwortung bekennen - und natürlich ihren Bürgern erklären, warum dies so wichtig ist.

Ein derartiges Unterfangen würde jedes europäische Land - und nicht nur die Mittelmeer-Anrainer - dazu verpflichten, Mittel zur Such- und Rettungsaktion beizusteuern. Der Grenzschutz kann nicht das einzige, oder auch nur das vordringliche, Ziel sein.

Über die Hilfe zur Bewältigung der aktuellen Krise hinaus muss sich Europa dazu verpflichten, zerbrechlichen Ländern zu helfen, die vor ihnen liegenden Herausforderungen zu bewältigen, das Wohl ihrer Bürger zu stärken und florierende Volkswirtschaften aufzubauen. Um ihre moralische und politische Autorität zu wahren, muss die EU - das vielleicht überzeugendste Beispiel dafür, wie Zusammenarbeit Frieden und Wohlstand fördern kann - sich ernsthaft und entschlossen außerhalb ihrer Grenzen engagieren und mit ihren Nachbarn Vereinbarungen schließen, von denen beide Seiten profitieren.

Über die Grenzen

Im vergangenen Jahrhundert - in beiden Weltkriegen - waren es die Europäer, die vor der Verfolgung flohen. Die Zahl der Vertriebenen hat ein Niveau erreicht, wie man es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat. Europa trägt eine Verantwortung, sich seiner Geschichte zu erinnern. Und es sollte die Gelegenheit ergreifen, auf die heutige Flüchtlingskrise so zu reagieren, wie es sich dies von der Welt anlässlich seines eigenen Leids gewünscht hätte - und zu beweisen, dass der Wert der EU weit über ihre Grenzen hinausreicht. (Javier Solana, Übersetzung: Jan Doolan, © Project Syndicate, 29.5.2015)