Jaroslav Ostrčilík kämpft für die Aufarbeitung dunkler Kapitel der Vergangenheit. Auch im eigenen Land.

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Vor genau 70 Jahren, am 30. Mai 1945, begann in der südmährischen Stadt Brno (Brünn) die organisierte Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung. Auf dem Mendlovo náměstí, einem nach dem Naturforscher und Genetiker Gregor Mendel benannten Platz in der Nähe des Zentrums, wurden die Deutschen der Stadt zusammengetrieben – vorwiegend Frauen, Kinder und Alte. Die meisten deutschen Männer waren längst gefallen, in Gefangenschaft geraten oder auf der Flucht.

Jüngsten Forschungen zufolge waren es bis zu 27.000 Menschen, die sich auf den Weg in ein spontan eingerichtetes Sammellager in der Gemeinde Pohořelice und von dort weiter über die Grenze nach Österreich machen mussten. Knapp 1700 von ihnen überlebten den "Brünner Todesmarsch" nicht: Sie starben an Erschöpfung, Krankheiten oder durch die Hand ihrer Bewacher - Soldaten, Arbeiter einer Brünner Waffenfabrik oder Mitglieder der so genannten Revolutionsgarden.

Die unmittelbaren Nachkriegsereignisse waren in der kommunistischen Tschechoslowakei lange Zeit Tabu. Nach der Samtenen Revolution des Jahres 1989 begann das Eis langsam zu schmelzen, das Prinzip der Kollektivschuld, das als Reaktion auf die Gräuel der nationalsozialistischen Besatzung zur Anwendung kam, wurde von immer mehr Menschen hinterfragt. Zum 70. Jahrestag des Brünner Todesmarsches wurde nun eine "Wallfahrt der Versöhnung" veranstaltet – von Pohořelice zurück bis zum Mendel-Platz in Brünn. Ihr Koordinator und geistiger Vater ist der Tscheche Jaroslav Ostrčilík.

STANDARD: Herr Ostrčilík, zum 70. Jahrestag des Brünner Todesmarsches haben Sie die "Wallfahrt der Versöhnung" organisiert. Ist diese Form des Gedenkens eine Premiere für die Stadt?

Ostrčilík: Eigentlich nicht, ich mache das bereits zum neunten Mal. Bisher haben wir die Veranstaltung einfach nur Gedenkmarsch genannt. Beim ersten Mal waren wir zu dritt, dann nahmen von Jahr zu Jahr mehr Leute teil. Wir sind immer von Brünn nach Pohořelice gegangen, also direkt auf den Spuren der Vertriebenen. Diesmal, zum runden Jahrestag, gehen wir in umgekehrter Richtung von Pohořelice nach Brünn. Damit wollen wir symbolisch die Vergangenheit zu einem Teil der Gegenwart machen. Wir wollen nicht verschweigen, was passiert ist, sondern davon lernen und die verlorene Multikulturalität wenigstens auf der symbolischen Ebene wieder nach Brünn zurückbringen.

STANDARD: Werden Sie dabei von der Stadt unterstützt?

Ostrčilík: Indirekt wurde der Gedenkmarsch schon in den vergangenen Jahren von der Stadt Brünn mitfinanziert, aus Mitteln des Kulturfonds. Diesmal findet er im Rahmen einer größeren Veranstaltungsreihe namens "Jahr der Versöhnung" statt und wird zur Gänze von der Stadt bezahlt und in jeder Hinsicht mitgetragen. Im "Jahr der Versöhnung" befasst sich die Stadt nicht nur mit der Vertreibung, sondern mit dem Zweiten Weltkrieg in seinem breiteren Kontext – also auch mit dem Holocaust, dem Naziterror, dem Krieg und dem Kriegsende. Das ganze Jahr über gibt es dazu Ausstellungen, Lesungen, Multimediaprojekte, Konzerte, Theateraufführungen und historische Spaziergänge.

STANDARD: Sie sagen, dass das Interesse am Gedenkmarsch in den letzten Jahren gewachsen ist. Beobachten Sie in Tschechien auch allgemein einen Mentalitätswandel, was die Aufarbeitung der dunklen Kapitel der Vergangenheit betrifft?

Ostrčilík: Auf jeden Fall. Wenn man das mit der Zeit vor zehn Jahren vergleicht, dann ist das Verhältnis der Tschechen zum Kriegsende viel reifer und entspannter geworden. Vor zehn Jahren war das nahezu noch ein Tabuthema und wurde nur sehr vereinzelt thematisiert. Seither aber wurden zu dem Thema viele Bücher geschrieben und viele Filme gedreht. Vor allem über diese kulturelle Schiene sind dann Diskussionen aufgekommen, die Gesellschaft sieht die Geschichte nun viel differenzierter. Vor allem die junge Generation ist da unbelastet. Wenn man diese Themen heute aufgreift, wird man in der Regel nicht mehr mit Ablehnung oder Wut konfrontiert, sondern eher mit Neugier.

STANDARD: Gilt diese kontinuierliche Entwicklung, die es in der gesellschaftlichen Breite gibt, auch für die politische Elite? Die Brünner Stadtvertretung hat ja jüngst die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung in einer Erklärung bedauert, der südmährische Kreishauptmann Michal Hašek hat das postwendend scharf kritisiert.

Ostrčilík: Das Thema Vergangenheitsbewältigung wird in Tschechien meist nicht von der Politik vorangetrieben, sondern durch Initiativen von unten. Menschen setzen sich aufgrund eines inneren Impulses, eines persönlichen Bedürfnisses damit auseinander. Die Vergangenheit erhitzt die Gemüter zwar nicht mehr so sehr wie früher, aber sie wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Da finden sich natürlich immer gerne Politiker, die darin eine Chance sehen, wahrgenommen zu werden. So wie bei der Präsidentschaftswahl vor zwei Jahren, als der heutige Präsident Miloš Zeman die unmittelbare Nachkriegsvergangenheit im Finale des Wahlkampfs sehr stark zum Thema gemacht hat. Einige Wähler hat er dadurch wahrscheinlich mobilisiert.

STANDARD: Haben Sie auch negative Reaktionen zu den Gedenkmärschen in den vergangenen Jahren bekommen?

Ostrčilík: Nur vereinzelt. Die Zahl der Toten ist etwa ein Punkt, zu dem es immer wieder Diskussionen gibt. Eine tschechische Historikerkommission hat sie auf 1691 beziffert. Man weiß auch nicht genau, wie viele Menschen eigentlich auf dem Todesmarsch waren. Einen Monat nach der Befreiung Brünns von den Nationalsozialisten war die Situation sehr chaotisch. Auch die Definition eines Deutschen war sehr vage in einer Stadt, wo die meisten Familien bunt gemischt waren. Es gab sogar Menschen jüdischen Glaubens, die gerade aus dem KZ zurückgekommen waren und nun als Deutsche erneut verfolgt wurden. Die Zahl der Teilnehmer am Brünner Todesmarsch beziffert man heute mit 20.000 bis 27.000. Davon sind ungefähr 4.000 aus Pohořelice wieder zurückgeschickt worden, weil man herausgefunden hatte, dass das eigentlich Tschechen, Juden oder deutsche Antifaschisten waren.

STANDARD: Sie sprechen von inneren Impulsen, die die Menschen bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit antreiben. Welcher innere Impuls war es bei Ihnen?

Ostrčilík: In Brünn haben dieselben Architekten gebaut wie an der Wiener Ringstraße: Helmer und Fellner, Theophil Hansen und viele andere. In der Brünner Mundart kommt fast jedes zweite Wort aus dem Deutschen. Als Student habe ich hier überall diese Spuren gesehen und gefühlt, und ich habe mich gefragt, warum es nicht reflektiert wird, dass die Deutschen nicht mehr hier sind. Irgendwann habe ich dann auch Näheres über den Brünner Todesmarsch erfahren. Der Holocaust und die anschließende Vertreibung der Deutschen haben die Stadt völlig verändert, Brünn ist eine andere Stadt geworden. Ich fand, dass man sich mit so wichtigen Dingen einfach befassen muss. Gerade mit schwierigen Fragen der Vergangenheit muss man sich auseinandersetzen, damit man nicht ständig von ihnen getrieben wird.