Ein Höhepunkt: "Rainis' Träume".

Foto: latvian showcase

Valters Silis Projekt "Verloren in der Antarktis".

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Elmars Senkovs inszenierte Strindbergs "Totentanz".

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"Der Idiot" nach Dostojewski.

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Alvis Hermanis dramatisierte den Roman "12 Stühle".

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Riga, am Wochenende. Während sich an dem einen Ufer der Draugava Staats- und Regierungschefs in der neuen, pompösen Nationalbibliothek zum EU-Gipfel trafen, fand auf der anderen Seite des Flusses ein großes Theaterfestival statt: der "Latvian Showcase", bei dem während weniger Tage mit bis fünf Vorstellungen am Tag die besten einheimischen Produktionen des letzten Jahres präsentiert wurden.

Der international bekannteste lettische Regisseur ist zweifellos Alvis Hermanis, der im September die neue Burgtheater-Saison mit dem "Revisor" eröffnen wird. Natürlich war im Rahmen des Festivals auch seine jüngste Inszenierung zu sehen, eine Dramatisierung der "12 Stühle". Dieser geniale Roman der Autoren Ilja Ilf und Jewgeni Petrow liefert ein schonungsloses und vernichtendes Sittenbild der Gesellschaft in der jungen Sowjetunion. Vor allem durch einen berühmten russischen Film ist er in den Ländern des ehemaligen Ostblocks immer noch sehr populär. Aber auch im "Westen" wurde der Stoff mehrere Male, von Franz Antel über Mel Brooks bis hin zu Ulrike Ottinger, auf die Leinwand gebracht.

Groteske Karikaturen

Hermanis' Version enttäuschte aber gründlich. Hier waren leider nur lauter männliche und weibliche Zappelphilippe am Werk, die statt Figuren ausschließlich groteske Karikaturen ablieferten, und das vier Stunden lang in dem von anderen Hermanis-Inszenierungen sattsam bekannten Blümchentapetendekor. Eine Qual, deren Sinn sich nicht wirklich erschloss.

Also begab man sich auf die Suche nach neuen, vielleicht interessanteren "Jung-Hermanissen". Der 30-jährige "Provinzregisseur" Elmars Senkovs – die Aufführung stammte aus der Stadt Valmiera – lieferte eine verknappte, präzise, aber nicht revolutionäre Studie von Strindbergs "Totentanz" ab. Vom 37-jährigen Vladislavs Nastavševs waren sogar gleich zwei Produktionen ins Programm aufgenommen worden: "Der Idiot" nach Dostojewski und "Reisende zu See und zu Land" nach Michail Kusmin. Der Roman des in unseren Breiten eigentlich völlig unbekannten Multitalents Kusmin (Dichter, Schriftsteller, Komponist, Kritiker und Übersetzer) ist ein faszinierendes und schillerndes Porträt der russischen Bohème in der Zeit zwischen der bürgerlichen (1905) und der bolschewistischen Revolution (1917).

Die Umsetzung des auch als sein eigener Bühnen- und Kostümbildner tätigen Nastavševs reduziert den faszinierenden Stoff jedoch auf einen Rezitations- und Gesangsabend in historischen Kostümen, der sich an, auf und in sechs schwarzen Klavieren abspielt. Im "Idioten" sind es dann sechs schwarze Telefonzellen, von denen aus die Protaganisten mit "Gott" zu telefonieren versuchen. Beides im Prinzip diskutable Ansätze, die sich als Hardcore-Konzepte allerdings nach spätestens zehn Minuten totlaufen und nichts als visuelle und geistige Ödnis hinterlassen.

Postsowjetische Tristesse

Insgesamt war beim heurigen "Showcase" – zumindest in der vorgestellten Auswahl – ein gewisser Hang zur postsowjetischen Tristesse und dem trotzigen Bestehen auf Hässlichkeit als vorgeblich höherem moralischem Prinzip festzustellen: leere, nackte, schwarze, abgefuckte Bühnenräume, unattraktive Kostüme, mit grässlichen Perücken verschandelte Schauspieler et cetera.

Den Höhepunkt dieser Tendenz – und somit den Tiefpunkt des Festivals – stellte die Nationaltheater-Produktion "Meine Pistole ist entladen" des russischen Autors und Regisseurs Konstantin Bogomolow dar. Seine pseudophilosophischen Texte drehen sich ausschließlich um Selbstmord, Tod, Mord und Massenmord: Eine Lehrerin berichtet stolz davon, ihre eigenen Schüler in Brand gesteckt zu haben als äußersten Akt der Liebe. Das Ganze dargebracht von mimisch wie gestisch zu völliger Ausdruckslosigkeit angehaltenen Akteuren und Aktricen, die diese verquasten Gedankenspiele frontal zum Publikum herunterleiern müssen.

Lebensfroher Ansatz

Einen originelleren – und lebensfroheren – Ansatz bot da schon das "Doku-Theater" des Dirty Deal Teatro. Valters Silis' Projekt "Verloren in der Antarktis" beruht auf den Aufzeichnungen des Forschers und Meeresbiologen James McClintock, eines der größten Experten des "Sechsten Kontinents". Stilistisch vielleicht zu sehr im Bereich der Lesung und des Dia-Abends angesiedelt, bot der Abend doch auf alle Fälle einen ungewöhnlichen Einblick in ein Land, das die meisten von uns nie betreten werden.

Einen überwältigenden Ausgleich für alle, die im Lauf der vier Festivaltage vielleicht nicht so glückliche Stunden im Theater verbracht hatten, bot jedenfalls eine weitere Produktion des Nationaltheaters: "Rainis' Träume". Der im deutschen Sprachraum so gut wie unbekannte Rainis, eigentlich Jānis Pliekšāns (1865–1929), ist so etwas wie der lettische Goethe, der unumstrittene Nationaldichter mit einem riesigen Denkmal im Herzen Rigas und 20 über das ganze Staatsgebiet verteilten Museen. Pflichtlektüre in den Schulen und daher generell bei den Letten eher nicht gerade sehr beliebt, aber sakrosankt.

Nationales Heiligtum

Umso mutiger vom Nationaltheater daher, diese Inszenierung einem Russen anzuvertrauen, und umso mutiger von Kyrill Serebrennikow, der soeben bei den Festwochen mit seinen "Toten Seelen" zu Gast war, sich an diesem nationalen Heiligtum zu "vergreifen". Und zwar mit Texten, die nicht nur den meisten vom Schulunterricht traumatisierten Einheimischen bis dato unbekannt waren, sondern auch noch ein ziemlich schlechtes Licht auf den "Helden des Vaterlands" werfen.

Die ungeheuer prägnanten Texte stammen allerdings von Rainis selbst. Dieser pflegte nämlich seine Träume, daher der Titel, penibelst zu notieren. Sind schon Sigmund Freuds diesbezügliche Aufzeichnungen von erschreckender Ehrlichkeit und Schonungslosigkeit gegenüber sich selbst, übertrifft ihn der Lette in dieser Hinsicht womöglich noch. Vom Wunsch, seine Frau, seine Co-Poetin Aspasija, umzubringen, über seine Macht- und Ruhmgelüste und seine ohnmächtige Wut, den Nobelpreis nicht erhalten zu haben, bis zum Albtraum, tot zu sein und nicht sterben zu können: Rainis erspart sich und uns nichts.

Stringente Revue

Serebrennikow webt daraus jedoch mit leichter Hand eine fast musikalische Revue über den Dichter, seine Bedeutung, seinen Nachruhm und seine inneren Dämonen, die trotz aller Vielfalt, Buntheit und Einbeziehung der lettischen Gegenwart nie beliebig wirkt, sondern immer stringent bleibt.

Als Coda gibt es nach all den blutigen Albträumen mit Meuchelmorden und Schweinehälften noch eine Szene, in der Rainis' Mutter, als heidnische Fruchtbarkeitsgöttin mit Goldkrone kostümiert, inmitten gestaffelter Plastikgräser nach ihrem Schmetterlinge fangenden Jungen Ausschau hält und verzweifelt nach ihm ruft. Eine poetisch-ironische Rückerinnerung, ebenso berührend wie die schauerlichen Nachtstücke zuvor. Ein Abend, den man aufgrund seiner Reichhaltigkeit und Bildermächtigkeit – auch aufgrund der eigenen völligen Unvertrautheit mit Rainis' Werk – gerne noch ein zweites oder drittes Mal gesehen hätte. (Robert Quitta, 29.5.2015)