"Müsste ich je flüchten, so hoffe ich, dass es nach Österreich sein kann" , schrieb der US-Autor und Journalist James M. Michener in seinem Buch Die Brücke von Andau. Darin dokumentierte er die Geschehnisse im Jahr 1956, als rund 200.000 Ungarn vor dem stalinistischen Regime über Österreich in den Westen flohen. Allein 70.000 davon benutzten als letzte Möglichkeit die kleine Brücke über den Einserkanal im Seewinkel ins Burgenland. Die Dorfchronik hält fest: "Es gab in ganz Andau keinen Raum, der nicht von Ungarn belegt gewesen wäre. Gaststätten, Schulen, Gemeinderäume, Kino und auch private Räume. Die Andauer waren Tag und Nacht unterwegs, um zu helfen."

Zeitsprung ins Jahr 2015: Im österreichischen Innenministerium erwartet man für heuer bis zu 50.000 Asylanträge, 2014 waren es mit 28.027 beträchtlich weniger. Mit Sicherheit keine einfache Aufgabe, aber verglichen mit den Zahlen der Ungarnkrise und anderer humanitärer Katastrophen (1968 flüchteten 162.000 Tschechen und Slowaken nach Österreich, 1991/92 kamen rund 13.000 Menschen aus Kroatien, 90.000 aus Bosnien-Herzegowina) auch keine unbewältigbare. Wenn man nur will.

Von der Hilfsbereitschaft, die Österreich in der Vergangenheit auszeichnete, ist - mit rühmlicher Ausnahme einiger privater und NGO-Initiativen - kaum etwas zu bemerken. Die politische Debatte um die Asylwerber dreht sich hauptsächlich um Quoten, Zuständigkeiten und die Suche nach Quartieren. Obwohl es eigentlich nicht nötig wäre, werden Flüchtlinge in Zelten untergebracht, weil Bund, Länder und Gemeinden unfähig sind, sich zu einigen. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner räumt sogar selbst ein, dass es nicht an Steuergeld mangle, sondern am Willen. Parteifreunde verteidigen heruntergekommene Kasernen gegen Parteifeinde und die Nutzung durch Asylwerber. Das färbt auf die öffentliche Meinung ab.

Menschen, die aus den schlimmsten Krisengebieten wie etwa Syrien nach langer, beschwerlicher Flucht hier landen, werden wie lästige Verschubware behandelt. An der politischen Rhetorik merkt man, dass es statt um "Hilfeleistung" oder "Unterstützung" viel mehr um "Belastung" und "unzumutbare Überbelegungen" geht. Ob James M. Michener auch in das heutige Österreich so gerne geflüchtet wäre? Wohl kaum.

Noch viel schlimmer ist die Situation jedoch auf der anderen Seite der Andauer Brücke. In Ungarn poltert Ministerpräsident Viktor Orbán, Europa müsse den Europäern gehören und Ungarn den Ungarn. Aufnahmequoten für Flüchtlinge in der EU findet er "verrückt" und wettert als Mitglied gegen die EU: "Brüssel will, dass noch mehr Leute herkommen. Wir wollen, dass niemand mehr kommt und die, die schon hier sind, nach Hause gehen." Diese Provokationen müssen gestoppt werden, meinte der Chef der Liberalen im Europaparlament, Guy Verhofstadt, zu Orbáns Ausritten völlig zu Recht.

Zum 40-jährigen Gedenken an den ungarischen Aufstand wurde in Andau 1996 eine neue Brücke errichtet. Sie sollte als Symbol der Hilfsbereitschaft in einem freien Europa stehen. Davon ist heute jedoch kaum etwas zu spüren. Das Motto des Song Contests, "Building Bridges", steht im krassen Gegensatz zur europäischen Flüchtlingspolitik, die dabei ist, Brücken einzureißen, statt sie zu festigen. (Rainer Schüller, 23.5.2015)