"Würden Sie diese Flüchtlinge aufnehmen?" stand vor kurzem auf dem Titelblatt von Profil, dazu das Foto von zwei jungen Afrikanern. Die spontane Reaktion der allermeisten Leser: Nein (wenn damit das Aufnehmen in der eigenen Wohnung gemeint ist). Wollen Sie, dass diese Leute im Mittelmeer ertrinken? Auch nein. Retten ja, aufnehmen nein.

So wie der Einzelne europäische Bürger reagieren auch die meisten europäischen Regierungen. Die einen spenden ein bisschen und diskutieren ein bisschen, die anderen erhöhen das Rettungsbudget und beraten über Aufnahmekontingente. Alle haben ein schlechtes Gewissen. Und alle wissen, dass damit das Problem nicht gelöst ist.

Etwas Ähnliches spielt sich in kleinerem Rahmen zurzeit rund um das sogenannte Bettlerproblem ab. In den Großstädten gibt es immer mehr Bettler, die meisten aus Osteuropa - darunter viele Roma. Niemand mag sie. Man weiß, dass sie arme Teufel sind. Man gibt ihnen ein wenig Geld und macht, wenn es geht, einen Bogen um sie. Und hat ein schlechtes Gewissen, wohl wissend, dass damit niemandem geholfen ist.

Immer häufiger begegnet man allerdings der Strategie, das schlechte Gewissen zum Schweigen zu bringen, indem man sich auf die vermeintlich Schuldigen an dem Unglück konzentriert. Die Schlepper! Die Bettlermafia! Oder auch die Unglücklichen selbst.

Kinder auf den Flüchtlingsbooten? So schlecht kann es den Leuten nicht gehen, sonst würden sie keine Kinder kriegen, konnte man neulich in der U-Bahn hören. Ein Asylwerber hat eine schöne Daunenjacke an. Der kann doch nicht so arm sein! Eine Migrantin ist schwanger. Die will doch nur bei uns in einem guten Spital ihr Kind zur Welt bringen und von unserem Gesundheitssystem profitieren!

Diese Strategie gebiert seltsame Ideen. Die Flüchtlingsboote zerstören? Bringt nichts, sagen die Experten; treibt nur die Schlepperpreise nach oben. Und wie unterscheidet man Schlepperboote von Fischerbooten?

Ähnliches geschieht in Sachen Bettler. Eine Bettlermafia beutet die Bettelleute aus, versichern Polizei und Boulevardmedien. Hinter jedem Bettler steht ein Pate mit Mercedes, der den Leuten das Geld abnimmt und davon reich wird.

Es hilft nichts, dass alle, die etwas davon verstehen, diese Behauptung ins Reich der Fantasie verweisen. "Organisiertes" Betteln heißt, dass ein paar Leute gemeinsam anreisen und jemand ihnen ein meist überteuertes Massenquartier zur Verfügung stellt. Als "aggressiv" gilt schon, wenn ein Bettler den Passanten seinen Pappbecher entgegenhält. Auch "gewerbsmäßiges" Betteln ist verboten. Hobbybetteln ist offenbar erlaubt. Wie sonst soll ein Armer betteln als "gewerbsmäßig"? In Wirklichkeit sind alle diese Bestimmungen nichts anderes als Versuche, die Stimme unseres Gewissens zum Schweigen zu bringen.

Gewiss, unser schlechtes Gewissen kann die Übermacht des Unglücks in unserer Welt nicht überwinden. Aber es durch Gemeinheit zu bekämpfen ist noch ärger. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 20.5.2015)