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"Herr Erdogan, Sie werden nicht Präsident werden!": Selahattin Demirtas, Kovorsitzender der HDP, schwor, den autokratischen Ambitionen Tayyip Erdogans einen Riegel vorzuschieben. Noch hat die Türkei eine parlamentarische Verfassung, die Staatschef Erdogan nicht die Macht gibt, die er will.

Foto: EPA / Ulas Yunus Tosun

Das Reich der HDP ist ein paar Straßen groß, links vom Tarlabasi-Boulevard in Istanbul, einst der Sündenpfuhl der Stadt mit seinen Nachtklubs und Bordellen, der hochführt zur großen Betonplatte, die nun den Taksim-Platz begräbt. Die nächsten Wahlen der Türkei werden hier entschieden.

Kleine bunte Wimpel mit dem Logo der Demokratischen Partei der Völker hängen an Leinen aufgereiht über den Straßen. Rot, grün, lila, gelb, alles Programm: Die Zeit der Nationalstaaten sei vorbei, sagt Turgut Öker - eine starke Ansage in einem Staat, der so sehr um sich selbst kreist und der Strafrechtsparagrafen bereithält für jeden, der die Nation in Frage stellt. "Wir wollen die multikulturelle Gesellschaft; etwas, was die Grünen in Europa als Erste vertreten haben", erklärt der Mann im dunklen Anzug jedoch, tadellos herausgeputzt, wie es sich für einen Kandidaten gehört.

Alle Augen auf Selahattin Demirtas

Turgut Öker kommt aus Köln. 30 Jahre war er dort, jetzt ist er der Spitzenkandidat der HDP im zweiten Wahlkreis von Istanbul. Im ersten tritt Selahattin Demirtas an, der Kopräsident der Partei und derzeit meistbeachtete Politiker des Landes.

Ökers Kandidatur bei den Parlamentswahlen in drei Wochen gilt als geschickter Schachzug. Der Türke aus Köln war bis vor kurzem Vorsitzender der Alevitischen Union Europas. Die Anhänger der großen muslimischen Religionsgruppe in der Türkei, politisch liberal und meist linksstehend, wählen normalerweise die Sozialdemokraten der CHP. Selbst die kurdischen Aleviten tun es, deren Familien in den 1930er-Jahren, während der Einparteienherrschaft der CHP, vom Staat deportiert oder massakriert wurden. Viel zu groß ist die Abneigung vor den konservativen Sunniten, der Mehrheitsreligion und ihrem Präsidenten Tayyip Erdogan, der das Land im 13. Jahr regiert.

Pokerspiel der HDP

Die HDP, 2012 als Projekt kurdischer Politiker gegründet, die ihr Parteiklientel im Südosten der Türkei für die Linken, Liberalen und alle Minderheiten im großen Rest des Landes öffnen wollen, hält mit einem Mal den Schlüssel für die Zukunft der Türkei in der Hand: Gelingt ihr am 7. Juni der Sprung über die hohe Zehnprozenthürde bei den Parlamentswahlen, nimmt sie der regierenden konservativ-islamischen AKP wohl die entscheidenden Sitze, um im Alleingang eine Präsidialverfassung für Tayyip Erdogan durchzuboxen; Erdogan wäre mit seinen Ambitionen gescheitert und bliebe für den Rest seiner Amtszeit ein Staatschef, der - wenigstens der Verfassung nach - unparteiisch sein müsste und das politische Geschäft Regierung und Premier überlassen sollte.

Scheitert die HDP allerdings, ist der Großteil der kurdischen Wähler nicht mehr im Parlament in Ankara vertreten. Das politische Vakuum könnte landesweite Straßenunruhen auslösen und eine lange Phase der Instabilität. Bisher traten kurdische Politiker als unabhängige Kandidaten an und schlossen sich nach der Wahl im Parlament zu einer Fraktion zusammen. Schaffen sie aber gemeinsam als Partei den Sprung über die Zehnprozenthürde, könnten Kurden und Linke statt knapp 30 weit über 50 Mandate erringen. Turgut Öker hat daran keinen Zweifel: "Wir kriegen das hin, absolut sicher. Es gibt eine Wende, wir sehen das auf der Straße."

Suche nach Freiwilligen

Dort stehen kleine Stände, auf dem Istiklal, der Einkaufsstraße der Touristen in Istanbul, in Kadiköy auf der asiatischen Seite oder in Gaziosmanpasha, dem kurdischen Arbeiterviertel im Westen. Die HDP sucht Freiwillige. Sie sollen sich auf Listen eintragen und dann Wahlwerbung machen oder als Wahlbeobachter auf Manipulationen achten. Mehrere tausend solcher Freiwillige hätten sich in Istanbul gefunden, heißt es am Sitz der HDP in Tarlabasi.

Leicht wird der Sprung über die Zehnprozenthürde nicht: Bei den Präsidentenwahlen 2014 errang Selahattin Demirtas einen Achtungserfolg und gewann allein in Istanbul knapp 650.000 Stimmen. Eine Million aber, so ist die Faustregel, braucht man in Istanbul, um landesweit über die Hürde zu kommen. Und Erdogan kämpft gegen die HDP. Auch wenn sein Amtseid "Unvoreingenommenheit" vorschreibt, tourt der Präsident von einem Wahlauftritt zum nächsten - erstmals auch mit dem Koran in der Hand. (Markus Bernath aus Istanbul, 16.5.2015)