Die Medikamenten-Prophylaxe bei Migräne-Kindern sieht die Neurologin Wöber‐Bingöl kritisch: Die Expertin ist überzeugt, dass damit der Blick zur ganzheitlichen Betrachtung der Erkrankung verstellt wird – also jenen Belastungsfaktoren, die für die Zunahme von Migräneattacken verantwortlich sein können.

Foto: Wöber

Der Blick auf die Migräne aus der Sicht eines Kindes.

Foto: Wöber/AKH Wien

STANDARD: Wie entsteht Migräne bei Kindern?

Çiçek Wöber‐Bingöl: Häufig werden Lebensmittel wie Nüsse und Schokolade für das Auftreten der Krankheit verantwortlich gemacht. Das stimmt nicht. Wer so etwas sagt, hat die Migräne nicht verstanden. Es handelt sich um eine Hirnstammkrankheit. Das wissen wir seit 1993 durch die Studien von Hans-Christoph Diener. Wieso ein Mensch Migräne-Gene trägt und ein anderer nicht, ist noch nicht geklärt. Bei der "Alltagsmigräne" mit Übelkeit, Brechreiz, Licht- und Lärmempfindlichkeit ist leider noch nicht erforscht, welche Gene dafür verantwortlich sind. Bei speziellen Migräneformen konnten vier Gene identifiziert werden.

STANDARD: Ab welchem Alter kann Migräne bei Kindern entstehen?

Wöber‐Bingöl: In der wissenschaftlichen Literatur wird von Fällen ab dem sechsten Lebensmonat berichtet. Das jüngste Kind, das ich jemals behandelt habe, war zwei Jahre alt. Während eines Termins in der Kopfschmerzambulanz hat es eine Migräneattacke bekommen: Plötzlich wurde das Kind blass, bekam blaue Ringe unter den Augen, begann zu weinen und hat schließlich erbrochen. Danach kam langsam wieder Farbe in sein Gesicht, es hörte auf zu weinen und ist eingeschlafen. Nach zwei Stunden saß das Kind wieder quietschvergnügt im Bett.

STANDARD: Wie lange dauert ungefähr eine Migräneattacke?

Wöber‐Bingöl: Bei Kindern bis zum 10. Lebensjahr dauern sie zwischen einer und zwei Stunden. Bei älteren Kindern und Jugendlichen können die Attacken deutlich länger anhalten. In der Zeit des ersten Auftretens von Migräne kommt es oft zu gehäuften Attacken.

Eltern machen sich häufig massive Sorgen und befürchten das Schlimmste. Deshalb ist eine genaue Anamnese äußerst wichtig. Denn alles, was Migräne-Patienten zusätzlich belastet, kann zu gehäuften Attacken führen. Der erste Termin in der Kopfschmerzambulanz dauert im Schnitt zwischen 60 und 100 Minuten, bei dem alle Belastungsfaktoren eruiert werden sollten. Immer wieder entdecke ich dabei auch andere Erkrankungen, die sich negativ auf die Häufigkeit der Attacken auswirken können. Nicht an der Oberfläche zu kratzen und eine medikamentöse Prophylaxe etwa mit Beta-Blockern zu empfehlen, ist sicher der falsche Behandlungsweg.

STANDARD: Sehen Sie die medikamentöse Prophylaxe bei Kindern kritisch?

Wöber‐Bingöl: 1991 wurde die Kopfschmerzambulanz im Wiener AKH eröffnet. Seit damals haben wir hier rund 17.000 Kinder und Jugendliche behandelt. Davon erhielten nur 40 eine medikamentöse Prophylaxe: mit einem Kalziumkanal-Blocker, der nur für einen kurzen Zeitraum von rund drei Monaten verabreicht werden darf.

Die Medikamenten-Prophylaxe vergleiche ich mit einer Vase, die häufig verwendet wird: Sie ist zwar außen schön poliert, aber es wird nicht nachgesehen, wie viel Schmutz sich innen abgelagert hat. Das heißt, ich kratze nicht an der Oberfläche und erhalte deshalb auch keinen Blick auf das Ganze – etwa auf die Lebensumstände und die Rahmenbedingungen, in denen Kinder heranwachsen. Das ist so ähnlich wie schick gekleidet zu sein, aber schmutzige Unterwäsche zu tragen.

STANDARD: Ist eine vollständige Therapie von Migräne möglich?

Wöber‐Bingöl: Die Migräne ist zwar eine sehr klare Erkrankung, aber sie kann nicht vollständig beseitigt werden. Es ist sehr wohl möglich, die Anzahl der Migräneattacken deutlich zu reduzieren. Ein Gen-Träger weiß außerdem nie, wann die Krankheit ausbricht. Bei 50 Prozent der Buben, die vor der Pubertät an Migräne leiden, verschwindet sie von selbst. Bei 70 Prozent der Mädchen bleibt die Migräne auch nach der Pubertät bestehen. Wer in der Pubertät an Migräne erkrankt, muss oft bis zur sechsten, siebten Lebensdekade mit ihr leben. Es kann aber auch sein, dass über 70-Jährige noch ab und an Migräneattacken haben.

STANDARD: Wie können Eltern erkennen, dass ihr Kind möglicherweise an Migräne leidet?

Wöber‐Bingöl: Kinder haben Attacken, die in den ersten zehn Lebensjahren zwar kurz, aber besonders heftig sein können. Anzeichen dafür sind, wenn das Kind abrupt das Spiel unterbricht, weint, erbricht und sich hinlegt. Mädchen, die in der Pubertät zum ersten Mal Migräne bekommen, haben häufige und äußerst schwere Attacken. Ab dem 40. Lebensjahr werden die Attacken schwächer, die Dauer nimmt aber zu.

STANDARD: Was empfehlen Sie Eltern?

Wöber‐Bingöl: Die ersten 40 Minuten nach dem Aufstehen sollten ruhig und entspannt sein. Wenn ein Kind in der Früh nicht genügend Zeit hat und sich hetzen muss, um beispielsweise in die Schule zu kommen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit für Migräneanfälle.

Man kann sich das sinnbildlich so vorstellen: Angenommen, im Schlaf beträgt die "Hirngeschwindigkeit" etwa 20 km/h, dann steigt sie beim Aufwachen auf 40 km/h. Wird die Bettdecke zurückgeschlagen und das Klappern von Geschirr sowie der Geruch des Frühstücks wahrgenommen, sind Sehzentrum, Hörzentrum und der motorische Kortex involviert. Das entspricht etwa 60 km/h.

Beim Aufstehen kommt unter anderem der Gleichgewichtssinn ins Spiel und wir sind mit 80 km/h unterwegs. Wenn das Kind zur Schule geht, Straßenverkehr und Lärm ausgesetzt ist, sich orientieren und womöglich auch noch rennen muss, um rechtzeitig anzukommen, dann ist das eine große Belastung für das Gehirn. Schließlich ist die Betriebsgeschwindigkeit innerhalb kurzer Zeit von 80 auf 200 km/h angestiegen.

STANDARD: Welche Möglichkeiten gibt es noch, um die Anzahl der Migräneattacken zu senken?

Wöber‐Bingöl: Geht es dem Gehirn gut, geht es auch dem Kind gut. Basisprogramm ist Wasser, Eiweiß und Glucose in der Früh und zu Mittag, um das Gehirn optimal mit Flüssigkeit und Energie zu versorgen.

Zudem habe ich untersucht, wie sich Fernsehen, Handy- oder Computerspiele auf den Schlaf von Kindern auswirken. Das Ergebnis: Die Erholung ist größer, wenn das Gehirn mindestens 30 Minuten vor dem Zu-Bett-Gehen keiner "Pixel-Unterhaltung" ausgesetzt ist. Sind visuell-elektronische Reize bis zum Einschlafen vorhanden, ist der Schlaf zwischen einer und vier Stunden gestört.

Eltern sollten einen Plan machen und darauf achten, dass ihr Kind dieses Schema einhält. Zusätzlich ist ein Kopfschmerztagebuch notwendig. Nach etwa sechs Wochen wird sich in den meisten Fällen zeigen, dass sich die Anzahl der Migräneattacken deutlich reduziert hat.

STANDARD: Sind Medikamente während einer Migräneattacke sinnvoll?

Wöber‐Bingöl: Ja, zur Kupierung (Abschwächung; Anm.) in der Frühphase der Migräneattacke. Das heißt, innerhalb der ersten 30 Minuten. Dabei handelt es sich um nichtsteroidale Antirheumatika oder Analgetika. ASS verabreiche ich erst ab dem zwölften Lebensjahr, wegen der Gefahr des Reye-Syndroms, bei dem es zu einer Schädigung des Gehirns und der Leber kommt.

STANDARD: Nimmt Migräne bei Kindern zu?

Wöber‐Bingöl: Ja. Warum das so ist, wissen wir nicht. Es dürften insgesamt zwischen fünf und zehn Prozent der 3- bis 18-Jährigen betroffen sein. (Günther Brandstetter, 18.5.2015)