Alles retro und größtenteils selbstrenoviert: Brothers' Barbershop in Wien Neubau.

Foto: Christian Benesch

Ein original Apothekerschränkchen mit allerlei Pflegeprodukten.

Foto: Christian Benesch

Die Inneneinrichtung des "K. u. K. Hofbarbier": Das Auge staunt beim ersten Besuch.

Foto: Marietta Adenberger

Beschwingte Musik dringt aus der sperrangelweit offenen Tür von Brothers' Barbershop in der Neubaugasse. Ab und zu erscheint davor ein bärtiger junger Mann mit Seitenscheitel, um Visitkarten auf einem Tisch zu drapieren. Als Erster seiner Art in Wien hat der Shop kürzlich eröffnet und erregt Aufsehen. Kaum ein Passant, der nicht zumindest einen Blick hineinwirft.

Gekommen, um zu trimmen: Die Brüder Ilya Sovtsov und Ivan Perevarin in ihrem großteils selbstrenovierten Geschäftslokal in der Wiener Neubaugasse.
Foto: Christian Benesch

Die geschäftstüchtigen Brüder Ilya Sovtsov (29) und Ivan Perevarin (25) haben ein regelrechtes Männerrefugium eingerichtet, um ihresgleichen bei Whisky und "Playboy" ans Haar zu gehen. Gesichtshaar, wohlgemerkt! Das Wort Bart kommt Ilya gar nicht über die Lippen, schließlich geht es ums Ganze – Undercut, Seitenscheitel und Koteletten inklusive. Neben hübschen Tiegeln und Flaschen im Original-Apothekerschrank sind zwei Retro-Barbierstühle der Stolz der Besitzer. Auf einem nimmt ein behandlungsbedürftiger Herr mit dichtem Vollbart Platz, um den Service erstmals zu testen. Bis zum Anschlag in die Horizontale geklappt, zum Klang von "I love Rock 'n' Roll".

Momentan sind hier noch zwei Barbierstühle zu finden – bald sollen es mehr werden.
Foto: Christian Benesch

Bis Ende Mai seien die Termine ausgebucht, verkündet Ivan in stolzem Brustton. Sämtliche Hipster-Klischees wie das obligatorische Fritz-Kola, Vintagemöbel und Rennräder sorgen dafür, dass klar ist, welche Hauptkundschaft sich hier angesprochen fühlt. Die nötige Mundpropaganda erledigen Facebook und Co (eine Website gibt es nicht), und das nicht zu knapp.

Wiederbelebung einer alten Tradition

Die beiden jungen Russen, die wegen ihres Jus-Studiums nach Wien gekommen sind, beleben die uralte Barbier-Tradition wieder, die im angloamerikanischen und südlichen Europa nie aufgehört hat zu existieren. "In London ist es keine Seltenheit, dass es drei Barbershops in einer Straße gibt", sagt Patrick, eine der praktizierenden Fachkräfte (die Brüder selbst haben dafür keine Ausbildung). Er hat das Handwerk in der englischen Hauptstadt beim großen Vorbild "Gents of London" erlernt, von dem ihn die zwei Russen kurzerhand abgeworben haben. Gesichtsbehaarung ist maskulin, markant und überhaupt das Nonplusultra, sind sich die Brüder einig. Wie zum Beweis schwenkt der weniger bärtige Bruder sein Smartphone mit einem Beweisfoto aus behaarteren Zeiten.

Bartkonjunktur

Wesentlich entspannter sehen das eingesessene Friseure mit Barbierservice wie Arsalan "Sascha" Babapour. In dessen zwölf Quadratmeter messendem "K. u. K. Hofbarbier" in der Operngasse hat sich schon Kaiser Franz Joseph erst den Schnurr-, dann den Vollbart trimmen lassen. Hier herrscht ein komplett anderes Flair als in Neubau: Mahagoniholzvertäfelung, ein raumhoher Glasschrank mit Setzkastenutensilien.

Zur Stammkundschaft gehören diverse Opernschauspieler und Kabarettisten, der inzwischen verstorbene Heinz Werner Schimanko ging ein und aus. "Seit zwei, drei Jahren ist das Barttragen aber besonders populär", bestätigt der Perser, der extra für seine zu 90 Prozent männliche Kundschaft ein Gemälde mit sich räkelnden Damen an den Plafond malen ließ – zur "Entspannung", während Messer und Schere schnibbeln.

Arsalan "Sascha" Babapour in seinem Salon in der Operngasse. Termine braucht man hier nicht, am besten spontan vorbeischauen.
Foto: Marietta Adenberger

Ob Schnauzer oder Dreitagebart – bis vor wenigen Jahren waren barttragende Männer eher die Ausnahme im heimischen Straßenbild. Wer dennoch einen schnellen Barttrimm brauchte, war beim türkischstämmigen Friseur des Vertrauens ganz gut beraten. Von London und Berlin, wo Retro-Wohlfühl-Barbershops Männer schon länger wie um die Jahrhundertwende rundum verwöhnen, schwappte der Trend dann wie gewohnt leicht zeitverzögert zu uns.

Bart als Abgrenzung zum Mainstream

Für Philipp Ikrath vom Institut für Jugendkulturforschung in Wien ist der typische österreichische Bartträger Angehöriger der sozialen Mittelschicht, hochgebildet, kulturell tonangebend und bewegt sich im urbanen Raum. Der Lifestyleforscher vermutet, dass der Hype von den erwähnten Hipstern ausging: "Sie wollten sich ursprünglich vom Mainstream abgrenzen." Nicht zuletzt ist er auch Teil des generell anhaltenden Retrotrends mit 1950er-Jahre-Tapeten und Strickpullovern, was erklärt, warum die neuen Barbershops offensichtlich auf alt getrimmt sein müssen.

Dass gepflegte Bärte wieder in sind, freut aber nicht nur findige hippe Jungunternehmer, sondern auch Hersteller von Rasiermessern und Pflegeprodukten. Bei Esbjerg, Österreichs größtem Anbieter von Nassrasurprodukten, macht sich der wiedergekehrte Haarwuchs im Gesicht im steigenden Absatz von Lotionen, Wässerchen und Klingen bemerkbar. "Für die wirklich guten Messer gibt es gerade längere Wartezeiten", sagt Geschäftsführerin Marga Walcher, die nebst dem Trend zum Bartstehenlassen beobachtet, dass die Männer letztlich auch immer gern selbst Hand ans Messer legen wollen. Hoffentlich vorsichtig. (Marietta Adenberger, Rondo, 18.5.2015)