Erika Tiefenbacher leitet eine NMS in Wien, Karl Schmutzhard war 38 Jahre lang AHS-Lehrer in Innsbruck. Sie wünscht sich eine gemeinsame, ganztägige Schule bis 14, sein Herz hängt an der Langform der AHS.

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STANDARD: Als jahrelang in diesem System Tätige: Was löst das Wort "Bildungsreform" in Ihnen aus?

Tiefenbacher: Müdigkeit. Wir sind reformmüde. Niemand traut sich den großen Wurf. Wir bemühen uns ständig, irgendetwas zu erneuern, weil wir wissen, so kann's nicht weitergehen, aber eben nur im kleinen Bereich, und dazu zähle ich auch die NMS. Das Alte zu verbessern ist nicht das, was wir uns für eine neue Bildungspolitik wünschen.

Schmutzhard: Ich würde mir wünschen, dass man die Personen in der Schule in den Mittelpunkt stellt: die Schülerinnen und Schüler, die Lehrerinnen und Lehrer. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, Systeme sind wichtig, ja, aber noch wichtiger sind die Menschen darin. Bildungsreform ist Bewusstseinsreform.

STANDARD: Wo würden Sie ansetzen für den gewünschten großen Wurf?

Tiefenbacher: Ich sage als NMS-Direktorin, dass ich gerne die gemeinsame Schule von 10 bis 14 hätte. In den meisten anderen Ländern der Welt funktioniert die gemeinsame Schule für die Allgemeinbildung ausgezeichnet, und dann kommt ab der 8., 9. oder 10. Schulstufe eine Spezialisierung.

Schmutzhard: Mein Herz – ich war 38 Jahre in einer AHS – schlägt für die Langform der AHS, gar keine Frage. Ich kann mir aber eine gemeinsame Schule vorstellen, meine Frau ist Südtirolerin, dort gibt es die Mittelschule seit vielen Jahrzehnten. Man müsste allerdings wirklich viel ändern. In Finnland funktioniert sie so gut, weil Schule als wichtige Einrichtung hoch akzeptiert ist und weil viele Menschen unterstützend an den Schulen arbeiten. Es dürfen auch jene Schülerinnen und Schüler nicht zu kurz kommen, denen es bei uns in der AHS schon zu wenig ist, weil sie viel mehr machen wollen. Wir hatten eine Unterstufe mit drei Fremdsprachen. Wenn ich an die denke, müsste das auch in einer gemeinsamen Schule möglich sein.

Tiefenbacher: Ich sage, die AHS funktioniert deswegen, weil Sie die Eltern haben, die mitspielen, die fördernden Eltern, die den Kontakt zur Schule halten und suchen. Den Rückhalt haben wir großteils nicht mit unseren. Eine gesunde Mischung aus Schülern, die schon sehr viel mitbringen von zu Hause, und weniger guten Schülern ist in der NMS im Ballungsraum Wien, vor allem in denen, wo sich die armen Kinder aus sozial schwachen, bildungsfernen Verhältnissen sammeln, nicht möglich. Diese zwei Schienen klaffen immer weiter auseinander.

Schmutzhard: Wobei es in Wien sicher anders ist als in Tirol. In vielen Tälern gehen fast alle Kinder in die Neue Mittelschule, weil es zu kompliziert ist, in die nächste AHS zu kommen. Die leben das, was gemeinsame Schule ist.

Tiefenbacher: Die Bildungsreform sollte daher auch die verschiedenen Ausgangssituationen berücksichtigen, und die Schulen brauchen die Autonomie, zu sagen, auf was müssen wir eingehen, was ist unser Schwerpunkt, sowohl in den Stärken als auch in den Schwächen, und danach sollten die Ressourcen verteilt werden.

Schmutzhard: Da bin ich zu hundert Prozent bei Ihnen.

STANDARD: Welche Professionen hätten Sie gern in der Schule gehabt? Sie schildern in Ihrem Buch eine Teenagerschwangerschaft, einen Drogentod, schwere Unfälle.

Schmutzhard: Wir müssen in der Schule alles selber machen, deshalb ärgert es uns, wenn man jetzt wieder sagt: Unterrichtszeit ist gleich Arbeitszeit. Wenn es psychische Probleme gibt, bin ich der Psychologe, der die zu lösen hat. Wir haben keinen Schulpsychologen an der Schule mit rund 1.000 Kindern und Jugendlichen. Das ist ein ganzes Dorf! Es gibt eine Schulärztin, die auch nicht immer da ist, und dann diagnostiziert die Direktionssekretärin, du legst dich jetzt nieder, und wir schauen, dass dich jemand abholen kommt. Ich bin mein eigener Sekretär, jede Kopie, die ich im Unterricht einsetze, mache ich selber. Jede Schulreise organisiere ich, ich bin also auch mein Reisebüro und so weiter.

Tiefenbacher: Ich habe nicht einmal eine Sekretärin. Die Beratungslehrerin teile ich mir mit einer weiteren und meinen Schulsozialarbeiter mit fünf anderen Schulen. Bei uns landen Flüchtlingskinder, einige kriegstraumatisiert, außerordentliche Schüler, die im laufenden Schuljahr kommen und alle Unterstützung brauchen, die einfach das eigene Leben abhält zu lernen. Um diesen Kindern die besten Bildungsmöglichkeiten zu bieten, braucht man Unterstützungsmaßnahmen und Fachleute.

STANDARD: In Ihrer Schule sind Kinder aus 30 Staaten, der Anteil jener mit Migrationshintergrund liegt je nach Schuljahr zwischen 80 und 100 Prozent. Das gilt ja für viele als das Worst-Case-Szenario in der Schule. Was entgegnen Sie denen?

Tiefenbacher: Dass ich Jugendliche habe, die in Österreich leben und denen wir den Lehrplan der Mittelstufe beibringen wollen. Wir haben aus diesem Manko, das die Kinder mit einer anderen Erstsprache mitbringen, eine Tugend gemacht und versuchen, mit verschiedensten Programmen diese vielen Sprachen auch in den Vordergrund zu stellen.

STANDARD: Und die Schwierigkeiten, die Sie offen eingestehen?

Tiefenbacher: Dass wir unsere Schülerinnen und Schüler ein bisschen anders unterrichten müssen, nämlich schülerzentrierter. Wir müssen auf die einzelnen Bedürfnisse eingehen, da kommt uns die NMS mit dem Konzept der kompetenzorientierten Unterrichtsfelder entgegen. Unsere Lehrer sind, sage ich immer in Anlehnung an das Spiel, Activity-Spezialisten, weil sie etwas sagen, es gleichzeitig mit Worten beschreiben, es an die Tafel schreiben und vielleicht auch noch zeichnen für die, die es leserlich nicht verstehen. Wir fördern die Muttersprache und sagen den Kindern: Es ist keine Schande, wenn du Albanisch, Rumänisch oder Türkisch sprichst, sei stolz drauf und verwende die Sprache. Das ist auch ein Rezept, dass unsere Schülerinnen und Schüler gelernt haben, selbstbewusster in der Schule und auch außerhalb dazustehen.

STANDARD: Wie hat sich das Lehrerbild über die Jahre verändert – von außen, aber auch das Selbstbild?

Schmutzhard: Ich habe 1972 begonnen, und mein Eindruck ist, dass man in den 80er-, 90er-Jahren in den Medien angefangen hat, die Lehrer zu prügeln. Wirklich die Lehrer als faul, ungerecht, mit zu vielen Ferien hinzustellen. Mir kommt jetzt vor, in den letzten zwei, drei Jahren wird man sich bewusst, wenn ich einen Berufsstand die ganze Zeit niederklopfe, dann hat das wirklich Auswirkungen. Diese negativen Bilder bleiben haften. Wobei ich sagen muss, so mancher Gewerkschaftsvertreter war für mich ein rotes Tuch, etwa Herr Neugebauer – und der stand ständig in der Öffentlichkeit. Ich habe mich da völlig ferngehalten. Der neue AHS-Gewerkschafter Eckehard Quin wirkt viel sympathischer.

Tiefenbacher: Ich möchte ergänzen, in allen Ländern, wo die Pisa-Ergebnisse besser sind, ist auch das Image der Lehrerinnen und Lehrer um einiges besser. Das Lehrerbild hat sich auch gewandelt, weil wir viel mehr übernehmen müssen und zugleich an allem schuld sind. Wenn jemand keine Erfolge hat, dann waren es die schlechten Lehrerinnen und Lehrer. Die Kinder werden immer dicker. Wo werden sie ernährt? Eigentlich zu Hause, aber wir in der Schule sollen dagegenarbeiten für eine gesunde Ernährung und so weiter. Und dann haben wir auch noch die Vermittlung des Fachs. Darum fordere ich auch ganztägige Schulen. Wir würden uns leichter tun, wenn wir die Kinder bis vier Uhr in der Schule hätten, und dann müssen sich die Eltern auch nicht mehr um das kümmern, was Schule verlangt. Das wäre sozusagen von uns die Garantieleistung, dass wir dafür sorgen, dass sie am nächsten Tag das haben, was wir von ihnen fordern. Das funktioniert jetzt nicht.

Schmutzhard: Ich verstehe Ihre Argumente für die Ganztagsform, aber wehre mich, wenn das verpflichtend für alle Schulen käme. Die nötige Infrastruktur fehlt weithin. Für die Kinder gibt es zu wenig Lebensraum in den Schulen, und für uns Lehrer gibt es kaum ruhige Arbeitsräume. Ich habe oft nicht gewusst, wo ich konzentriert arbeiten konnte. Im Lehrerzimmer geht das nicht. Ein halber Quadratmeter Schreibfläche – ja! – und daneben besprechen Kolleginnen und Kollegen ihre Sachen.

Tiefenbacher: Ich bin da ein bisschen ambivalent, weil ich mir denke, unser Schulhaus hat natürlich auch immer wieder Engpässe, aber es gehen Kinder zum Turnen aus der Klasse raus, also wenn ich einen ruhigen Raum finden will, dann könnte ich das auch.

STANDARD: Was sagen Sie zur Idee "zwei Stunden mehr Unterricht für alle Lehrerinnen und Lehrer"?

Tiefenbacher: Ich würde es nicht gerne als reine Sparmaßnahme für ein Budgetloch sehen. Aber wenn es zwei Stunden sind, dann hätte ich gerne, dass man verhandelt und sagt, okay, eine Stunde ist unser Beitrag für die Allgemeinheit, und die zweite Stunde möchten wir selbst für zusätzliche Fördermaßnahmen direkt in die Schülerinnen und Schüler investieren. Unsere Lehrerinnen und Lehrer sind vor allem Beziehungspersonen, die unsere Kinder halten und tragen und auf das Leben vorbereiten. Das kostet viel Energie. Da geht man nicht nach Hause und sagt: Stopp. Ende. Da arbeitet es noch weiter. Diese psychische Belastung, das Schlechthören ab 45 (Lachen) – das sind alles zusätzliche Faktoren. Und ich sage immer, wenn jemand meint, dass wir Lehrer es so gut haben: Komm einfach einmal zu mir in die Schule und schau, was da alles noch zusätzlich zur Wissensvermittlung passiert.

Schmutzhard: Das hätte ich mir auch oft gewünscht. An so einem Vormittag ist unheimlich viel los. Das sind Hunderte von Aktionen und Reaktionen und Antworten, die man setzt, weil jedes Kind wichtig ist, das auf mich zugeht und mir etwas sagt oder mich etwas fragt.

Tiefenbacher: Wenn man Lehrer ist, dann ist das ein Auftrag von der Gesellschaft, und als solchen sehen wir es auch. Nur: Wenn wir pausenlos beschnitten werden mit unseren Zeiten, die wir mit unseren Kindern verbringen – das ist ja eine Sparmaßnahme, es sind dann weniger Lehrer für die gleiche Anzahl der Kinder da –, und zusätzlich das Image immer schlechter wird und man gesagt kriegt, ihr arbeitet eh zu wenig, dann wird es uns zu eng. Und da denk ich mir, es muss baldigst ein Umdenken – von der Bildungspolitik beginnend, in die Gesellschaft führend – anfangen. (Lisa Nimmervoll, 12.5.2015)