Es dauerte nicht lange, da schwebte am Freitag beim Gedenken an 70 Jahre Kriegsende der Name des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker durch den Bundestag. Am Rednerpult erinnerte der Historiker Heinrich August Winkler noch einmal an jene historische Rede, die der Ende Jänner verstorbene Weizsäcker am 8. Mai 1985 gehalten hatte - in der er den 8. Mai 1945 als einen "Tag der Befreiung" bezeichnet hatte.

Winkler, einer der renommiertesten Historiker Deutschlands, erklärte vor den Abgeordneten aller Fraktionen, es habe in der deutschen Geschichte "keine tiefere Zäsur" gegeben als den 8. Mai 1945: "Der von den alliierten Soldaten, und nicht zuletzt denen der Roten Armee, unter schwersten Opfern erkämpfte Sieg über Deutschland hatte die Deutschen in gewisser Weise von sich selbst befreit - im Sinne der Chance, sich von politischen Verblendungen und von Traditionen zu lösen, die Deutschland von den westlichen Demokratien trennten."

"Schrecklichstes Verbrechen"

Doch viele Deutsche hätten erst einen "langen und schmerzhaften Weg zurücklegen müssen", bevor sie erkannten, dass es sich bei den Verbrechen der Nationalsozialisten - wie es der britische Kriegsreporter und spätere Premier Winston Churchill formulierte - "um das wahrscheinlich größte und schrecklichste Verbrechen der ganzen Weltgeschichte handelt, das von angeblich zivilisierten Menschen im Namen eines großen Staates und eines führenden Volkes Europas mit wissenschaftlichsten Mitteln verübt wird".

Winkler mahnte, diesen Teil der Geschichte niemals zu vergessen: "Abgeschlossen ist die deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nicht, und sie wird es auch niemals sein." Jede Generation müsse ihren eigenen Zugang suchen. "Zur Verantwortung für das eigene Land gehört aber immer auch der Wille, sich der Geschichte dieses Landes im Ganzen bewusst zu werden", erklärte der Historiker.

Angesichts von Fremdenfeindschaft und antisemitischer Hetze, die Deutschland in den vergangenen Monaten erlebt habe, müsse man sich immer wieder die "eigentliche Lehre der deutschen Geschichte der Jahre 1933 bis 1945" vor Augen führen: "die Verpflichtung, unter allen Umständen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen zu achten".

Der 73-jährige Winkler, emeritierter Historiker an der Freien Universität Berlin, ist der erste Nichtpolitiker, der anlässlich des Gedenkens an den 8. Mai 1945 im Deutschen Bundestag sprach. Im Gespräch mit dem STANDARD hatte er diese Rede zuvor als "Herausforderung" bezeichnet.

Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck legte am Freitag im brandenburgischen Lebus, wo 4800 sowjetische Kriegstote bestattet sind, einen Kranz nieder. Am Montag und Dienstag wird der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin in Berlin erwartet, um gemeinsam mit Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel den 50. Jahrestag der Aufnahme deutsch-israelischer Beziehungen zu feiern.

(Birgit Baumann aus Berlin, DER STANDARD, 9.5.2015)