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Noch ein Selfie fürs Graduationsalbum, doch nach dem Abschluss zieht es viele Südkoreaner ins Ausland.

Foto: APA/EPA/Yna

Inmitten der Matura-Vorbereitungen leidet Koo Se-woongs älterer Bruder erstmals unter ominösen Brustschmerzen, die Ursache kann keiner der aufgesuchten Ärzte diagnostizieren. Später, bereits als Student an einer renommierten Seouler Universität, gesellen sich derart massive Allergiebeschwerden hinzu, dass er regelmäßig Spritzen injizieren muss.

"Zum Glück hat meine Mutter das Problem intuitiv erkannt", sagt Se-woong fünfzehn Jahre später – und meint damit das Bildungssystem seines Heimatlandes, das die Gesundheit seines Bruders ruiniert habe. Ihm wollte die Familie dasselbe Schicksal um jeden Preis ersparen. Während der Vater fortan in Südkorea blieb, um die Rechnungen zu begleichen, zog die Mutter mit Se-woong nach Kanada, wo er zuerst das Gymnasium besuchte und später ein Philosophiestudium absolvierte. "Damals waren wir so etwas wie Pioniere", sagt der heute 34-Jährige.

Bildungsexodus

Das Phänomen des kollektiven Bildungsexodus hat sich in den koreanischen Wortschatz eingeschlichen: Fast 200.000 "Gänseväter" sollen derzeit getrennt von ihrer Familie leben. Sie zahlen für den Schulaufenthalt ihrer Kinder im englischsprachigen Ausland.

Seit Jahren führt Südkorea die Ranglisten der unglücklichsten Schüler an. Sie leiden vor allem unter dem immensen Leistungsdruck. Die meisten Oberschulen verhängen Anwesenheitszeiten bis nach zehn Uhr am Abend. Laut einer repräsentativen Umfrage vom November leidet das Gros der Schüler unter chronischem Schlafmangel, jeder Zehnte habe Selbstmordgedanken. Die hochkompetitive Atmosphäre setzt sich fast nahtlos an den Universitäten des Landes fort – und auch darüber hinaus: In keinem anderen OECD-Land schieben die Leute derart lange Arbeitsschichten wie in Südkorea, geben mehr Geld für die Bildung ihrer Kinder aus und erhalten dennoch nur prekäre Pensionen.

Viele Uni-Absolventen versuchen, ins englischsprachige Ausland zu migrieren. Mit den veränderten Werten dieser Generation kristallisiert sich jedoch zunehmend ein neuer Sehnsuchtsort für die Bildungselite des Landes heraus: Nordeuropa. In den vergangenen sieben Jahren hat sich die Zahl an Koreanern in Skandinavien mehr als verdoppelt.

Soziale Idylle

Laut Angaben des Außenministeriums handelt es sich fast ausschließlich um Absolventen der Top-Universitäten, die die soziale Idylle Nordeuropas einem gutbezahlten Job bei Samsung vorziehen. Die junge Generation sei von der Gesellschaft enttäuscht, begründet die Tageszeitung Chosun Ilbo den aktuellen Migrationstrend. Wenig überraschend sind die entscheidenden Kriterien bei der Länderwahl für die Uni-Absolventen nicht die Höhe des Lohnes, sondern vor allem ein funktionierendes Sozialsystem, saubere Umweltbedingungen und eine familienfreundliche Arbeitskultur – jene Eckpfeiler, die in Südkorea unterentwickelt sind.

"Nicht die Jungen kehren Südkorea den Rücken, sondern Südkorea hat seine Jugend im Stich gelassen", schreibt ein User auf dem Internetportal Daum. Koo Se-woong zog es dennoch nach dem Studium zurück in sein Heimatland. Allerdings nur vorübergehend, wie er beteuert, da er sich um seine älter werdenden Eltern kümmern müsse: "Ich kann mir nicht vorstellen, den Rest meines Lebens in Korea zu verbringen". (Fabian Kretschmer aus Seoul, 7.5.2015)