Wien – Eigentlich wollte er nach "Germany". Er wusste von dem Land, weil auf einer Taschenlampe, die er besaß, "Made in Germany" geschrieben stand – er erträumte sich einen Ort voller Chancen und Freiheit. Belgien war ihm auch ein Begriff. Er hatte Leute in seinem Heimatdorf in der Region Chost in Afghanistan davon sprechen gehört.
Seine viermonatige Flucht führte ihn schließlich im August 2011 nach Österreich; genauer gesagt zum Wiener Praterstern, wo er mehrere Nächte im Freien schlief, unwissend, wo er sich befand, ohne jemals von Österreich gehört zu haben. Wo er war und dass er um Asyl ansuchen könne, erfuhr er von einem Passanten. Der kaufte ihm einen Fahrschein zum Flüchtlingslager in Traiskirchen.
Kritik an Betreuung
Mit seinen 17 Jahren galt Fazel S. damals als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. 2014 kamen 2.260 Minderjährige alleine nach Österreich, die meisten aus Afghanistan, viele aus Syrien und Somalia. Sie werden – zumindest theoretisch – altersentsprechend betreut und untergebracht, ein Vormund der Jugendhilfe sowie ein Rechtsvertreter werden ihnen zur Seite gestellt. In der Praxis kritisieren Organisationen seit Jahren die mangelnde Qualität und Kapazität bei Quartieren und Betreuung sowie niedrige Tagsätze.
Besonders schwierig wird es für die Jugendlichen, wenn sie die Volljährigkeit erreichen. Bei Fazel S. war es nach rund sechs Monaten in Österreich so weit. Als nach einer Fußoperation der Gips abgenommen werden musste, fragte er, ob man ihn ins Spital begleiten könne: "Du bist jetzt 18", hätten die Betreuer argumentiert und ihn alleine fahren lassen. Bei rechtlichen Fragen oder Beratung zu Beruf und Bildung fühlt er sich ebenfalls auf sich allein gestellt.
Frau, die Zigarette rauchte
Beschweren will sich Fazel aber nicht. Er erzählt mit einem Schmunzeln und leuchtenden Augen von den Schwierigkeiten, mit welchen er bisher konfrontiert war. "Ich war wie ein neugeborenes Kind." Er habe nichts gewusst, nichts verstanden und sich nicht verständigen können, erzählt der 21-Jährige. Er sei aber auch fasziniert gewesen – als er etwa erstmals im Leben eine Frau sah, die eine Zigarette rauchte. Heute lacht er über diese Erfahrungen: "Ich bin ein Europäer geworden."
Derzeit holt Fazel den Pflichtschulabschluss nach. Er erfuhr nur zufällig vom "Projekt Schule für Alle" (Prosa) und bestand den Aufnahmetest. Lesen und Schreiben lernte er in Afghanistan in der Koranschule. Den Regelunterricht durfte er nicht besuchen – sein Onkel setzte sich mit Gewalt durch, verbot dem Buben sogar das Musikhören. Fazel musste am Feld arbeiten. Entscheidungen habe er nicht treffen dürfen. Der Alltag im Dorf sei von Gewalt und Waffen geprägt gewesen. Trotzdem lernte er – bei Kindern, die zur Schule gingen – heimlich das Alphabet.
Auf den Bescheid warten
Bei dem Gedanken, wieder nach Afghanistan zurückkehren zu müssen, verschwindet das Strahlen aus Fazels Augen. Einmal wurde sein Asylantrag abgewiesen. Er reichte Beschwerde ein und wartet seither auf einen Bescheid.
Die gute Laune stellt sich wieder ein, als er von den Workshops erzählt, die er im Rahmen des Patenschaftsprojekts "Connecting People" der Asylkoordination abhält. Er bringt Schülern spielerisch das Thema Flucht näher. Nach dem Schulabschluss würde er sich gern zum Straßenbahnfahrer ausbilden lassen. Als Asylwerber hat er aber nur Zugang zu Sparten, in denen Lehrlingsmangel herrscht. (Christa Minkin, 7.5.2015)