Am Ende des Hafenkais von Portopalo di Capo Passero liegen rund ein Dutzend bunter Holzboote an Land. Fingerbreite Risse ziehen sich durch Lack und Planken. Fetzen eines Sonnendaches hängen wie Spinnweben von einem rostigen Gestänge. Tausende Flüchtlinge gelangten auf diesen Vehikeln nach Sizilien. Die Menschen aus Syrien, Eritrea, Mali, Nigeria, Gambia und Somalia verbringen meist drei bis fünf Tage auf dem Meer, das hier türkis an die Steine klatscht. Zwischen den Booten blühen Kamillen, doch es ist ein Geruch aus den Schiffsbäuchen, der in die Nase steigt. Unter den Decks liegen Schaumstoffreste und zurückgelassene, fleckige Kleidung.

Wohl aus ähnlichen Booten wurden allein am Wochenende mehr als 4.200 Bootsflüchtlinge gerettet, wie die italienische und griechische Küstenwache am Sonntag mitteilten. Zahlreiche Schiffe waren beteiligt, darunter mittlerweile auch welche aus Frankreich und Deutschland. Die meisten der Geretteten werden nach Sizilien gebracht. 2014 zählte das Rote Kreuz 290 Schiffslandungen mit mehr als 120.000 Migranten auf Sizilien und Lampedusa. Insgesamt kamen im Vorjahr knapp 230.000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa.

In Portopalo di Capo Passero, am südlichsten Zipfel Siziliens, liegen Schiffswracks, auf denen Flüchtlinge auf die Insel gelangten.
Florian Rainer/Caritas

Rund 300 Kilometer entfernt liegt Libyen, von wo aus die Boote starten. Eines der ersten Gesichter, in das die Ankommenden im Hafen von Catania blicken, ist vielleicht jenes von Eduardo Falcone. Der 21-jährige Helfer des Roten Kreuzes Catania erzählt von Flüchtlingen, die aus Durst Meerwasser tranken, die dehydriert, verstört, mit Knochenbrüchen oder Verbrennungen ankamen. "Wir können gar nicht genug tun", meint Falcone, "nur versuchen, die Not zu mindern." Der Leiter des Roten Kreuzes Sizilien, Rosario Valastro, sagt: "Das Mittelmeer war einst das Meer des Lebens. Jetzt ist es ein Sarg."

Kritik an Triton-Mission

Beim EU-Sondergipfel im April wurde entschieden, die Mittel für die Seenotrettung aufzustocken – "innerhalb des Mandats der Grenzschutzbehörde Triton". Das Einsatzgebiet reicht – anders, als es bei der italienischen Seerettungsoperation Mare Nostrum war – nur bis 30 Meilen vor Italiens Küste. "Triton ist keine humanitäre Operation. Es ist eine Grenzoperation", kritisiert Valastro.

Der Bürgermeister von Catania, Enzo Bianco, fordert "ein Aufnahmezentrum in Catania, das nicht die Fahne von Catania trägt, sondern jene der EU". Zugleich lobt er die Solidarität der Bürger. Klaus Schwertner, Generalsekretär der Caritas Wien, der sich Ende vergangener Woche gemeinsam mit Walter Hajek vom Österreichischen Roten Kreuz auf Sizilien ein Bild von der Lage machte, sagt: "Wenn der Bürgermeister von Catania sagt, er fühlt sich im Stich gelassen, dann kann ich das verstehen. Mit 22 Cent pro Europäer könnte Mare Nostrum wieder gestartet werden." Eine der Forderungen der Initiative "Gegen Unrecht" zahlreicher NGOs.

Schaumstoffreste und Kleidung im Inneren der Schiffe.
Florian Rainer/Caritas

Filipo Mangiafico meint, man müsse dort mehr helfen, wo die Menschen herkommen. Der Trafikant am Hauptbahnhof von Catania beobachtet, dass vor allem die Afrikaner auf Sizilien bleiben. Die meisten von ihnen landen als Erstes in Mineo, dem größten Erstaufnahmezentrum Europas, rund eine Fahrtstunde von Catania entfernt. 3.200 Flüchtlinge leben derzeit dort. Viele, so meinen Bürger, büchsen wieder aus. Das passiere nur im Einzelfall, heißt es vor Ort.

"Bald wird Italien überrannt sein"

Flüchtlinge, die sich bei der Ankunft um die Aufnahme von Fingerprints drücken, versuchen in ein anderes Land zu kommen. "Die Syrer sind gut organisiert. Die fahren gleich in den Norden", sagt Mangiafico. "Die Afrikaner sind verloren. Sie kommen ohne Ziel, ohne Schuhe. Sie tun niemandem was, aber sie wissen nicht, wohin." Draußen auf dem Platz betreibt Giuseppe G. einen Imbissstand. Er beobachtet mit Unbehagen, wie die Zahl der Flüchtlinge auf Sizilien steigt: "Bald wird Italien überrannt sein." Für zehn Euro am Tag setze man sie in der Landwirtschaft ein und beute sie aus, sagt G. "Das würde kein Italiener tun. Die verlangen 60 bis 80 Euro."

2014 wurden 290 Schiffslandungen auf Sizilien und Lampedusa gezählt.
Florian Rainer/Caritas

Beide Geschäftsleute sind sich einig: Sizilien hat schon genug Probleme. Im Süden Italiens und auf den Inseln lag die Arbeitslosenrate 2014 mit 20,7 Prozent um acht Prozent über dem Landesschnitt. 2012 stand Sizilien mit 20 Milliarden Euro Schulden vor dem Bankrott. Und trotz Verhaftungswellen ist die Cosa Nostra nach wie vor einflussreich. Es heißt, die Mafia nasche beim Geld, das der Staat für die Versorgung von Flüchtlingen ausgibt, mit. Jeder, der einem von ihnen Unterkunft und Essen gibt, erhält rund 35 Euro am Tag.

400 Hungrige jeden Abend

Michael, der nur seinen Vornamen verrät, will weiter in den Norden. Derzeit übernachtet der 26-jährige Eritreer im Schlafsack in der Ecke einer Piazza von Catania. Freiwillige bringen Michael an diesem Abend Pasta und ein Sandwich. Das Essen wurde in der Caritas-Suppenküche für Obdachlose zubereitet. Als diese 2007 eröffnet wurde, war sie für 80 Menschen gedacht. Inzwischen kommen jeden Abend mehr als 400 Personen. Zusätzlich werden an 15 Orten Essenspakete verteilt.

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Grafik: DER STANDARD

Abdel – in Sakko und Stoffhose – lässt sich am Fußende von Michaels Schaumstoffmatte nieder. Der 31-Jährige lebt seit vier Jahren in Italien und hat Arbeit als Übersetzer. "Ich komme jeden Abend hierher", sagt er. Michael sei seit einem Monat hier, übersetzt Abdel. In Eritrea sei es zu gefährlich gewesen. Rund 47.000 Eritreer kamen 2014 nach Europa. 80 Prozent durften bleiben. Elf Stunden habe die Fahrt über das Meer gedauert. Die Flucht durch die Sahara sei viel schlimmer gewesen. "Wenn man sein Zuhause verlässt", sagt Abdel, "dann kann man nicht zurück. Mit jedem Schritt weiter kannst du weniger zurück." (Gudrun Springer aus Catania, DER STANDARD, 4.5.2015)