Victor Enenodion mit seiner Frau Vivien und seinen beiden Söhnen.

Foto: Florian Rainer/Caritas

Victor kann nicht schwimmen. Seine Frau und sein Sohn Prosper genauso wenig. Trotzdem entschieden sich die Eltern, mit dem damals einjährigen Buben und 106 anderen Menschen auf ein Schlauchboot zu steigen. 300 Kilometer weit sollte das Vehikel sie tragen. "Die Luft ging aus, wir stopften das Loch. Die Luft ging woanders aus. Wir stopften das Leck. Die Luft ging aus. Irgendwann wurden wir zum Glück gerettet." Bis zu diesem Zeitpunkt waren fünf Tage auf dem Meer vergangen. Ohne genug Trinkwasser für die schwangere Frau. Unter prekären hygienischen Umständen. Ohne zu wissen, wie die Reise endet. So erzählt Victor Enenodion von seiner Flucht über das Mittelmeer nach Italien. In Kalabrien betraten die Nigerianer das erste Mal europäischen Boden. Europa sei, so sagt er, nie sein Ziel gewesen.

Als der Mann seine Geschichte erzählt, lehnt er im Türrahmen eines hellen Hauses – angeblich ehemals eine Immobilie der Mafia – in einem Wohnviertel der Ortschaft Mascalucia auf Sizilien. Die Stadt liegt an den Ausläufern des Ätna, etwas über Catania. Die Flüchtlingseinrichtung wird von zwei Genossenschaften betrieben, für die sich die Gemeinde wiederum mittels Ausschreibung entschied. Die gemeinnützige Vereinigung erhält pro Flüchtling ein Taggeld von rund 35 Euro. Derzeit leben zehn Erwachsene mit ihren sieben Kleinkindern beziehungsweise Babys dort.

Zwanzig Quadratmeter Platz

Die Tür hinter Victor führt in einen leicht abgedunkelten Raum. Darin schläft gerade sein fünf Monate alter Zweitgeborener. Seit August 2014 sind die Enenodions in diesem Zwanzig-Quadratmeter-Zimmer mit angeschlossenem kleinem Bad zu Hause. Hierher werden Familien mit Kindern und hochschwangere Frauen gebracht, wenn es Plätze in diesen kleinerräumigen Lösungen gibt. Die meisten, die auf Sizilien ankommen, landen zunächst im Erstaufnahmezentrum Mineo. In Italien können die Ankömmlinge politisches Asyl beantragen, humanitäres Bleiberecht bekommen oder subsidiären Schutz. In Mineo, unweit von Catania, leben auf einem weitflächigen ehemaligen Stützpunkt von US-Soldaten im Moment 3.200 Flüchtlinge, 3.000 davon sind Männer. Ob jemand dort unterkommt oder in einer kleineren Einrichtung wie jener in Mascalucia, entscheidet eine Abteilung des italienischen Innenministeriums.

Victor Enenodion stammt aus dem Süden Nigerias, wo er auch als Mechaniker arbeitete. Er sagt, sein inzwischen verstorbener Vater habe dem Geheimbund der Ogboni angehört. "Er sagte mir vor seinem Tod, ich soll ihnen ja nicht beitreten", erzählt der 29-Jährige. Der Sohn hielt sein Wort – und brachte sich damit in Gefahr. "Eines Tages betraten fünf Männer mein Haus und sagten, sie bringen mich um", erzählt er. Freunde hätten ihm geraten, nach Libyen zu gehen. Also entschied sich die Familie dazu, alles hinter sich zu lassen. In der libyschen Stadt Sabha entwickelten sich die Dinge zunächst gut. Er habe sogar als Automechaniker Arbeit gefunden. Doch nach rund eineinhalb Jahren habe sich die Lage dramatisch zugespitzt. Irgendwann habe er kein Geld mehr für seine Arbeit bekommen. Ständig habe man von Morden gehört. Eines Tages erwischte es einen Freund – "mit fünf Schüssen".

Kein Geld für die Überfahrt verlangt

Also zog die Familie nach Tripolis. Dort sei es noch schlimmer gewesen. Die Enenodions entschieden sich, auf ein Boot nach Italien zu steigen. Geld habe niemand dafür verlangt. "Vielleicht wegen des Babys und weil meine Frau schwanger war", sagt der Familienvater. Fragt man andere Flüchtlinge in Sizilien danach, erhält man ähnliche Antworten. Vielleicht auch, um etwaigen weiteren Fragen auszuweichen.

Die Enenodions erhielten nach wenigen Monaten humanitären Schutz in Italien. Er gilt vorerst für zwei Jahre. Die Bewilligung kann theoretisch fünfmal verlängert werden. Dann bestünde die Möglichkeit, um die Staatsbürgerschaft anzusuchen. Victor würde gerne arbeiten. "Ich suche dringend einen Job." Derzeit darf die Familie nicht einmal ihr eigenes Essen kochen. "Aus hygienischen Gründen" werde in dem Zentrum von einem Koch Essen zubereitet. Für die Familien werden aber Sprachkurse angeboten. Victor Enenodion dürfte legal arbeiten. "Ich würde sogar auch putzen gehen", sagt er. "Bitte, wenn Sie etwas wissen, sagen Sie es mir." (Gudrun Springer, DER STANDARD, 4.5.2015)