"Welche Teile Ihres Lebens waren Zeitverschwendung?" Bei "Tischgesprächen" in Magdas Hotel treffen Neu- und Altwiener aufeinander, um sich auszutauschen.

Foto: Magdas Hotel

Am Tisch zu sitzen, zu essen und dabei mit Menschen zu reden gehört noch immer zum Vernünftigsten, was es gibt auf der Welt. Doch bis es so weit kommt, kann es dauern! Menschen gehen nicht einfach aufeinander zu. Was in den sozialen Medien unkompliziert und vergleichsweise hemmungslos funktioniert: die schnelle Teilhabe, der kurze Austausch, das geht im echten Leben recht zögerlich. Menschen sprechen einander aus guten Gründen nicht frank und frei an, obwohl sie sich für andere ja grundsätzlich interessieren.

So viele Menschen wie noch nie können heutzutage miteinander in Kontakt treten. Eine Überforderung, für die es neuer Riten bedarf. Solche Formen des Zusammentreffens und Kommunizierens haben sich längst herausgebildet, um den Menschen dabei auf die Sprünge zu helfen, Kontakte zu knüpfen. Eine Möglichkeit wäre, am Marktplatz zu verweilen, zu warten, bis etwas geschieht und Gespräche auf sich zukommen zu lassen. Wer sich jedoch gezielter mit anderen konfrontieren möchte, für den hat die Stunde des Social Dining geschlagen.

Kultureller Austausch

Social Dining, die österreichische Variante heißt schlicht Tischgespräch, gibt es in verschiedenen Formaten. Im Individualtourismus avancierte diese Form des kontrollierten Sozialkontakts bereits zu einer gepflegten Praxis kultureller Auseinandersetzung. Wer mit "echten" Menschen eines Gastlandes "echte" Gespräche führen möchte, der buche im Privathaushalt einer hoffentlich des Kochens mächtigen Person einen Platz am Esstisch (z. B.
www.eatwith.com oder www.cookening.com).

Das "Tischgespräch" im engeren Sinn basiert auf Ideen des britischen Historikers und Philosophen Theodore Zeldin ("Conversation Dinner"). Der Oxford-Professor entwickelte Fragen, entlang deren Gesprächspartner einander halbwegs schnell kennenlernen können. Merke: Hat nichts mit Dating zu tun. Fragen können da lauten: "Welche Teile Ihres Lebens waren Zeitverschwendung?" oder "Wo liegen die Grenzen Ihres Mitgefühls?" Die Erfahrung zeigt, dass man fremden Menschen gegenüber auskunftsfreudiger und ehrlicher ist als gedacht.

Das entscheidende Abenteuer im 21. Jahrhundert besteht laut Zeldin nämlich in der Frage "Wer bist du?". Eine der größten gesellschaftlichen Aufgaben in unserer globalisierten Welt ist es, Berührungsängste abzubauen. Und diese sind in Zeiten immenser Migrationsströme und hoher Mobilität noch einmal größer geworden.

Nach Charme muss man in Wien ein Weilchen graben, findet auch Eugene Quinn - nicht ohne Zuneigung zur österreichischen Bundeshauptstadt. Immerhin hat sich der Londoner hier vor wenigen Jahren ganz freiwillig niedergelassen. Herb ist es dennoch, neu in der Stadt zu sein und seinen Platz zu finden. Das müsste es nicht, wenn Menschen mehr voneinander wüssten und weniger Ressentiments hätten.

Mit vier Gleichgesinnten hat Eugene Quinn deshalb die Plattform space and place gegründet, die in Projekten den Stadtraum neu erfahrbar macht und Menschen zusammenführt. Mit den sogenannten Vienna Coffeehouse Conversations etwa wird die Kaffeehauskultur neu belebt: Wienerinnen und Wiener stellen sich als Experten fürs "Einheimischsein" zur Verfügung, als Gesprächspartner für Touristen und andere Interessierte von auswärts.

"Welche Musik bewegt Sie?"

In Zusammenarbeit mit Magdas Hotel organisiert space and place monatlich auch Tischgespräche mit Migranten. In dem von der Caritas als Nonprofitunternehmen geführten und vom Architektenteam AWG (Alles wird gut) designten Hotel nahe der Prater-Hauptallee kamen erstmals im März Alt- und Neuwiener jeweils im Viererpack am gedeckten Tisch zusammen. Bei einem dreigängigen Menü tauschen sich beispielsweise Julia Pillinger aus Wien, Baset S. aus Teheran und Faryadi H. aus Nangahar in Afghanistan über folgende Fragen aus: "Was haben Sie von Ihrer Familie mitbekommen?" oder "Wogegen haben Sie in Ihrer Vergangenheit rebelliert? Und heute?"

Die Gesprächssituation ist straff organisiert und erinnert in ihren Rahmenbedingungen an die Expertendialoge der Berliner Theatermacherin Hannah Hurtzig ("Schwarzmarkt des Wissens") ein Format, das beim Steirischen Herbst und bei den Wiener Festwochen zu Gast war. Es herrscht also auch in Magdas Hotel ein wenig Festivalstimmung.

Wir essen Grießnockerlsuppe, Geröstete Knödel und Kaiserschmarren, während Baset von der persischen Spezialität Ghormeh Sabzi schwärmt. Er ist 18 Jahre alt und hat nach einer lebensgefährlichen Flucht seit über einem Jahr keinen Kontakt zu seiner Familie in Teheran.

Diese gehört dort zur afghanischen Minderheit und lebt aus Selbstschutz undercover. Baset sieht aus wie der junge Horst Buchholz und will in Österreich arbeiten und eine Familie gründen. Seine Geschichte ist spannend und lehrreich zugleich. An einer Bushaltestelle oder auf dem Postamt hätten wir gewiss nicht in ein Gespräch gefunden.

Die soziale Praxis der "Tischgespräche" gibt es auch zu spezifischeren Themen, zur konkreten Konfliktlösung, auf Kongressen als Schauplatz gepflegter Streitkultur oder schlicht zur Aufklärung. Auch treffen Menschengruppen aufeinander, die sich in Opposition sehen: arm und reich, hetero- und homosexuell, politisch links und rechts.

Wir haben nicht verlernt, miteinander zu reden, nur sind die Ängste anderen gegnüber gewachsen, und das Bedürfnis nach Effizienz ist gestiegen. Im Chaos der Welt können solche organisierten Gespräche, zumal "privat" im Sinne von "unkontrolliert", Freundschaften begründen oder kleine Wunder bewirken. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD, 2.5.2015)