Aaron Collins hat sich freigenommen. Sleepy’s, eine Matratzenkette, muss für einen Tag ohne ihren Filialleiter in West Baltimore auskommen. Collins hat Wichtigeres zu tun, er versucht, den Frieden zu wahren. Hochkonzentriert steht er vor einer Reihe blau uniformierter Polizisten, den wachen Blick auf eine demonstrierende Menschenmenge gerichtet, als wäre er selber ein Ordnungshüter.

Nur dass die Menge nicht wirklich demonstriert, sondern eher ein Volksfest feiert. Einige tanzen, während sechs nicht mehr ganz junge Trompeter, Saxofonisten und Trommler, die Baltimore Brass Factory, Jazzklänge spielen. Vor einer Baptistenkirche namens Simmons Memorial singt ein ungemein lautstarker, großartig rhythmischer Gospelchor vom Herrgott, der hoch im Himmel schwebt.

Der improvisierte Auftritt einer Jazzkapelle.
Foto: Frank Herrmann

Es ist, als wollte Baltimore sie durch gute Laune und hohe Dezibelstärken vertreiben, die bösen Geister der Nacht. In Baltimore hat die Talkshow-Queen Oprah Winfrey Karriere gemacht, die Stadt nennt sich "Charm City", seit den Siebzigerjahren, als sie den Niedergang mit einem aufmunternden Werbespot bremsen wollte. Es scheint, als wollte der ausgelassene Pulk am Brennpunkt des Geschehens – Pennsylvania, Ecke North Avenue – aller Welt zeigen, was für ein Quell der Lebensfreude Baltimore ist.

Aaron Collins (links) und Nick Tucker (mit Basecap) in einer Reihe schwarzer Freiwilliger, die sich schützend vor die Polizisten gestellt haben, um Störenfrieden das Handwerk zu legen.
Foto: Frank Herrmann

Menschliche Mauer

Aber die Stimmung, weiß Collins, kann jederzeit kippen, und dann schreiten sie ein, er und die drei Dutzend Männer, die sich vor den Uniformierten aufgebaut haben wie eine menschliche Mauer. Sportlertypen, groß und kräftig, alle schwarz. Neben Collins wacht Nick Tucker, ein bärtiger Student, der an der Bowie State University Football spielt und sich ein T-Shirt seiner Mannschaft übergestreift hat, darauf das Maskottchen einer fröhlichen Bulldogge.

"Vorhin hat jemand eine Flasche geworfen. Hab' sie aufgefangen", sagt Tucker in lakonischer Kürze, und als er den skeptischen Blick des Reporters bemerkt, versichert sein Kumpel, dass es wirklich so war. Kurz darauf schreien wütende Männer mit erhobenen Fäusten auf den Chef der selbsternannten Ordnertruppe ein. Aber der, zwei Meter groß, auf dem Kopf das Käppi eines Vietnamveteranen, starrt sie schweigend nieder, bis sie davonziehen.

Machtprobe an der Linie der freiwilligen Polizisten, besser gesagt: Ordner.
Foto: Frank Herrmann

Versengte Metallrahmen statt Schaufenstern

Nein, meint Collins, leicht falle es ihm nicht, eine schützende Wand vor den Cops zu bilden. Dazu hätten sie ihn zu oft schikaniert, ihn wegen irgendwelcher Lappalien angehalten, etwa, als er Teenager war und seine Hose für den Geschmack eines Weißen ein bisschen tief saß. "Aber glaubst du, dass es besser wird, wenn wir unser Viertel abfackeln? Da drüben, das CVS, das baut keiner mehr auf, das wird ein Mom-and-Pop-Shop, sonst nichts." CVS, Amerikas größte Drogeriekette, ist in Sandtown-Winchester, dem Problemviertel im Westen der Stadt, vorläufig nicht mehr vertreten. Wo einmal Schaufenster waren, gibt es nur noch versengte Metallrahmen.

Drinnen kehren freiwillige Helfer die traurigen Reste in eine Ecke. Es stinkt, als wären Schränke voller Medikamente umgekippt und explodiert, und so war es im Grunde ja auch. Zentimeterhoch steht eine giftige Brühe im Raum, während Schaulustige Erinnerungsfotos schießen. Ruinentourismus. Falls Collins recht hat, dann wird hier keine der großen Ketten mehr ein Risiko eingehen, dann macht hier irgendwann höchstens ein Tante-Emma-Laden auf. Mom and Pop, wie Amerikaner sagen. Es wäre ein weiteres Symbol für den scheinbar unaufhaltsamen Abstieg von Sandtown-Winchester.

Straßen in Sandtown-Winchester, dem Problemviertel im Westen Baltimores, in dem Freddie Gray aufwuchs.
Foto: Frank Herrmann

Problemviertel

Pure Tristesse verströmt es nicht, das Viertel, aus dem Freddie Gray stammte, der 25-Jährige, der in einer Klinik starb, nachdem ihn Polizisten festgenommen hatten. Sanfte Hügel, lange Straßenzüge mit zwei- und dreistöckigen Reihenhäusern, oft geschmackvoll angemalt in zarten Pastelltönen. Postkartenbilder. Nur dass sich in den Seitenstraßen die Zahl der Ruinen häuft, leere Fensterhöhlen mit Sperrholz verrammelt. Gray wuchs mit zwei Schwestern in einem Haus auf, an dessen Fensterrahmen bleihaltige Farbe abblätterte. Im Blut der drei Kinder war eine hohe Bleikonzentration festgestellt worden, worauf die Mutter den Vermieter verklagte.

Protestposter mit ihren Schildern.
Foto: Frank Herrmann

In Sandtown-Winchester liegt die Zahl solcher Verfahren viermal höher als im Durchschnitt Baltimores. Statistisch gesehen ist es zweimal wahrscheinlicher, hier durch Kugeln getötet zu werden als im Rest der Stadt, obwohl die auch schon eine hohe Kriminalitätsrate aufweist. Unter den 10- bis 17-Jährigen saß jeder Vierte schon mal hinter Gittern. Die Heroinsucht grassiert, jeder fünfte Erwerbsfähige ist arbeitslos.

Nochmals an der Reihe der freiwilligen Polizisten.
Foto: Frank Herrmann

Gefängnis statt Freizeitbeschäftigung

Dass es zuletzt noch weiter abwärts ging mit Sandtown-Winchester, macht Temple Stokes, Soziologiestudentin im letzten Semester, an den Pal-Zentren fest. Pal steht für Police Athletic League, gemeint sind Turnhallen, in denen sich Heranwachsende austoben können, theoretisch unter Anleitung von Polizeibeamten. Die vier Pal-Hallen, die es im Westen Baltimores gab, wurden vor drei Jahren geschlossen. Mangelnde Gebäudesicherheit, lautete die Begründung. "Dafür bauen sie mitten in der Stadt ein nagelneues Jugendgefängnis, für hundert Millionen, dafür reicht das Geld, das ist doch alles ein Teufelskreis", poltert Stokes. Warum der Kessel explodierte, "explodieren musste", sagt sie, illustriert sie mit einer Metapher aus der Tierwelt. "Das ist wie mit einer Katze, die du immer nur in die Ecke drängst. Irgendwann springt sie dich an."

Tanisha Owens, eine Lehrerin aus Baltimore.
Foto: Frank Herrmann

Tanisha Owens, eine Lehrerin, erzählt von Sparrunden im Schulbetrieb: In ihrer ersten Klasse sitzen jetzt 32 Kinder, "Kinder aus, wie es so schön bürokratisch heißt, bildungsfremden Familien". Die Kids seien smart, doch das Bildungssystem lasse sie im Stich, sagt Carla Hayden, die Chefin einer Bibliothek, die so etwas wie der Lichtblick von Sandtown-Winchester ist, allein schon optisch. Die bunten Glasfronten der Enoch Pratt Library sind heil geblieben, ein auffälliger Kontrast zur zerstörten Drogerie direkt gegenüber. "Vielleicht lag es an Penny", versucht die Direktorin das Wunder zu erklären und zeigt auf das Fassadenbild eines schwarzen Mädchens, das im Schneidersitz ein Buch liest. Eines, erzählt Hayden, hätten sie jedenfalls schon am Morgen nach der Flammennacht beschlossen: "Wir gehen alle zurück an die Arbeit." (Frank Herrmann aus Baltimore, derStandard.at, 29.4.2015)