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Artwork-Darstellung einer Krebszelle: Am Tumor stirbt man nicht, sondern an der Tatsache, dass er sich verbreitet

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Laurie Glimcher strebt eine Krebstherapie an, die der modernen Behandlung von HIV nicht unähnlich ist. Aus einer tödlichen Erkrankung soll eine chronische werden.

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STANDARD: Als Richard Nixon 1971 den "Krieg gegen Krebs" ausrief, glaubten viele Wissenschafter, man würde den Krebs binnen zwei Jahrzehnten besiegen. Das war offenbar zu optimistisch. Warum?

Laurie Glimcher: Dieses Forschungsprogramm war eine Mondrakete, die noch nicht für den Start bereit war. Wie sich herausstellte, ist Krebs ein viel gerisseneres Biest, als man damals angenommen hatte. Die Chemotherapie hatte zwar einige Erfolge gebracht, aber die meisten Krebsarten blieben dennoch unheilbar. Man stirbt normalerweise nicht am Tumor, sondern an der Tatsache, dass er sich im Körper ausbreitet.

STANDARD: Anders gefragt: Was wissen wir nun über Krebs, was man damals nicht wusste?

Glimcher: Es gab in der Zwischenzeit auf zwei Gebieten große Fortschritte: die direkte Bekämpfung von Krebsgeweben und die Aktivierung des Immunsystems. Ersteres beruht auf der Erkenntnis, dass Tumore nicht nach den Organen klassifiziert und behandelt werden sollten, von denen sie stammen, sondern nach den DNA-Veränderungen, die sie zu bösartigen Wucherungen gemacht haben. Blasenkrebs kann beispielsweise von Mutationen ausgelöst werden, die für Brustkrebs typisch sind. Ohne das Humangenomprojekt wäre diese Einsicht unmöglich gewesen. Der zweite Fortschritt wurde vor über 100 Jahren angedacht – vom Onkologen William Coley. Er hatte erkannt, dass unser Immunsystem imstande ist, im Körper flottierende Krebszellen abzutöten. Es gab viele Versuche, das umzusetzen, aber sie sind alle gescheitert. Hier haben wir erst in den letzten Jahren Fortschritte gemacht.

STANDARD: Welche Entdeckungen führten dazu, dass Coleys Idee schließlich umgesetzt wurden?

Glimcher: Vor allem eine Entdeckung des Immunologen James Allison. Er hatte herausgefunden, dass es auf den sogenannten T-Lymphozyten Rezeptoren gibt, mit denen sich diese Immunzellen aktivieren lassen. Die T-Lymphzyten sind gewissermaßen die Gehirne des Immunsystems. Sie können Proteine auf den Krebszellen erkennen und diese abtöten.

STANDARD: Warum schaffen das die T-Lymphozyten nicht ohne Hilfe?

Glimcher: Weil sich der Tumor in einer Mikroumgebung verbirgt, die das Immunsystem hemmt. Allisons Beitrag bestand darin, jene Rezeptoren auf Immunzellen zu blockieren, die der Tumor für seinen Schutz verwendet. Moderne Wirkstoffe wie Yervoy und Keytruda tun genau das: Sie aktivieren die T-Zellen, indem sie die unerwünschte Hemmung verhindern. Diese Methode nennt man Checkpoint-Blockade. Sie hat in den letzten paar Jahren zu erstaunlichen Resultaten geführt.

STANDARD: Bei welchen Krebsarten wurde das schon angewandt?

Glimcher: Zum Beispiel bei Patienten mit einem metastasierenden Melanom, bei denen die Chemotherapie gescheitert war. Etwa 30 bis 40 Prozent der Patienten sprachen auf die Therapie an, bei manchen von ihnen verschwand der Krebs völlig. Es ist allerdings noch zu früh, um abschätzen zu können, wie lange dieser Rückzug anhält. Wir müssen auch noch herausfinden, welche Tumorarten für diese Therapie geeignet sind. Lymph- und Lungenkrebs sind aussichtsreiche Kandidaten. Natürlich ist auch das nicht die Antwort auf Krebs – aber ich würde sagen, das ist ein bedeutender Schritt vorwärts.

STANDARD: Angenommen, die Verteidigung des Immunsystems gegen Krebs – der ja Teil des Körpers ist – wäre perfekt: Könnten dann nicht Autoimmunreaktionen entstehen?

Glimcher: Absolut, das ist die andere Seite der Medaille: Man will, dass die T-Zellen aktiv werden, aber wenn sie überaktiv sind, wenden sie sich gegen das körpereigene Gewebe. Letztlich ist das eine Abwägung von Risiko und Nutzen. Wenn ein Krebspatient die Chance hat, seine Krankheit zu besiegen, betrachtet er eine Darmentzündung meist als das geringere Übel. Es ist sogar so, dass die Autoimmunreaktionen in manchen Fällen als Vorhersage für den Therapieerfolg dienen: Sind sie da, sprechen die Patienten in der Regel auch auf die Krebstherapie an.

STANDARD: Welches Ziel streben Sie in der Krebstherapie an?

Glimcher: Was wir anstreben, ist letztlich eine Therapie, die der modernen Behandlung von HIV nicht unähnlich ist. Die Kombinationstherapie verhindert, dass der HI-Virus mutiert, gegen ein Medikament resistent wird und sich wieder unkontrolliert vermehren kann. Das möchten wir mit Krebsmedikamenten und Immuntherapie auch erreichen: Wir wollen den Krebs von einer tödlichen in eine chronische Krankheit verwandeln.

STANDARD: Kommen wir zu einem anderen Thema: Sie waren und sind in einer ehemaligen Männerdomäne erfolgreich. Ist es für Frauen immer noch schwieriger, in der Medizin Karriere zu machen?

Glimcher: Ja, das ist es. Seit der Zeit, als ich eine junge Wissenschafterin war, hat sich zwar vieles gebessert, aber es ist immer noch schwierig. Dem liegt ein Problem zugrunde, das mir fast unlösbar erscheint: Die weibliche Biologie kreuzt sich mit der wissenschaftlichen Karrierephase, die zwischen Erfolg und Misserfolg entscheidet. Es ist wirklich hart. Ich habe drei Kinder und hatte das Glück, dass meine Eltern nur ein paar Minuten entfernt wohnten. Wenn ich in einer anderen Stadt war, um Vorträge zu halten, waren die Großeltern da. Und natürlich hatten mein Mann und ich auch ein Kindermädchen. Vor 30 Jahren hatte ich gehofft, dass es mehr Frauen in führenden Positionen geben würde. Als ich mit 39 eine unbefristete Stelle erhielt, sagte man mir, ich sei die zweite ordentliche Professorin an der Harvard Medical School. Ich sagte: "Ist das ein Scherz? Das ist eine riesige Universität, das kann doch nicht sein!" Das war 1990. Nun ist es besser, aber nicht viel.

STANDARD: Woran liegt das?

Glimcher: Das Problem ist nicht, dass es zu wenige Studentinnen gäbe. Die Schere öffnet sich erst, wenn es darum geht, sich nach der Postdoc-Phase dauerhaft im akademischen Betrieb durchzusetzen. Wissenschaft ist ein aggressives, schnelllebiges Geschäft. Um hier Erfolg zu haben, muss man als Frau nicht nur klug und kreativ sein, man muss auch extrem gut organisiert sein. Aber ich sage jungen Frauen auch: Wenn ihr Kinder haben wollt, dann opfert diesen Wunsch nicht eurer Karriere. Meine Kinder sind das Licht meines Lebens. Ausgenommen mein Enkel. Er ist mein Superlicht. (Robert Czepel, DER STANDARD, 29.4.2015)