Das Ensemble des Zagreb Youth Theatre staunt über den Auftritt der schönen Nina (Jadranka Dokic, li.). Im Theater Akzent wird die Produktion ab 30. Mai mit deutschen Übertiteln zu sehen sein.

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Bobo Jelcic inszeniert nur ausnahmsweise Klassiker.

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Zagreb - Um eine der verwirrendsten und schönsten Tschechow-Inszenierungen dieser Tage zu sehen, muss man vorerst noch nach Zagreb reisen. Im Herzen der Innenstadt liegt das Zagreb Youth Theatre (auf Kroatisch: Zagrebacko kazaliste mladih). Hinter Bauzäunen versteckt sich eine der wichtigsten Avantgardebühnen Südosteuropas. Gegeben wird das erste der vier Meisterdramen von Anton Tschechow, Die Möwe.

Regisseur Bobo Jelcic interessiert sich nicht im Geringsten für gängige Tschechow-Klischees. Die Bühne im ZKM-Theater klafft offen wie ein schwarzer Würfel auf. Bohrgeräusche lassen auf Vorbereitungsarbeiten schließen. Vorne an der Rampe stehen: ein zerschlissenes Sofa, zwei Fauteuils. Ein alter Teppich hält Fußkontakt mit den Besuchern in der ersten Reihe.

Auf dem Sofa hat die Schauspielerin der Mascha Platz genommen. Die nicht mehr junge Frau sieht sich den Zudringlichkeiten des Lehrers Medwedenko ausgesetzt. Der kleine, glatzköpfige Mann überschüttet sie mit seiner Suada. Mascha aber verzehrt sich nach Kostja. Dieser sensible Jüngling möchte - Stück im Stück - ein selbstverfasstes Drama uraufführen. Ausgerechnet seine Frau Mama soll das Publikum bilden. Die Arkadina ist selbst Schauspielerin: eine ukrainische Duse, die auf den Jahrmärkten von Poltawa und Umgebung die groben Kaufleute zu Tränen rührt.

Beklemmend und atemberaubend

Das erste Wunder in dieser kaum 80-minütigen Aufführung passiert gleich zu Anfang. Mascha kann Medwedenko nicht ausstehen. Doch das ist noch zu freundlich ausgedrückt. Während der kleine Pädagoge ihr sein Herz ausschüttet, verfällt Mascha in Panik. Rutscht seitlich über die Sofalehne. Macht aus Verzweiflung einen Kopfstand. Rüttelt an der Seitentür, die sich nicht öffnen lässt. Diese beklemmende Szene, eine von vielen atemberaubenden, werden die Besucher der Wiener Festwochen ab 30. Mai im Theater Akzent bewundern können.

Bobo Jelcic braucht keine Birken, um die Nöte der Tschechow-Figuren todernst zu nehmen. "Ich inszeniere für gewöhnlich keine ,klassischen' Stücke", sagt der freundliche Mann im Anschluss an die Aufführung. An der Möwe habe ihn die Künstlerthematik interessiert. Kostja ist hier in Zagreb ein langer "Nerd" in Trainingshosen. Immer wieder erscheint er in der Tiefe der Bühne und gibt Anweisungen. Sein kleines Stück handelt bekanntlich von einer Welt ganz ohne Menschen. "Neue Formen" brauche das Theater, um wieder ernst und wesentlich zu werden.

Kostja ist ein Narr und Träumer. Die junge Nina soll sein Werk zum Besten geben. Hier stöckelt eine schöne, junge Ballettfee herein. Sie vertritt des Dichters Anliegen unter einem Paar von Häschenohren. Vor allem aber bringt sie die kleine Gesellschaft dazu, unentwegt die Plätze zu wechseln und ins (echte) Publikum zu starren, als wäre von diesem irgendein Heil zu erwarten.

Kostjas Debüt als Dramatiker endet wie erwartet im Fiasko. Seine Mutter hält sich lieber an den Dichter Trigorin als an ihr missratenes Söhnchen. Trigorin ist ihr Liebhaber. Er sieht aus wie der reife Peter Gabriel und versteht es, unerhört klug daherzuschwätzen. Nina, die "Möwe", verfällt ihm auf der Stelle. Mama Arkadina, eine kalte Dame mit bedrohlicher Physis, sieht hinter Jackie-O.-Brillen das Unglück heraufziehen.

Ein Schuss und Schluss

Man muss gute Nerven haben für Bobo Jelcic' Tschechow-Meditation. Von der Möwe, wie wir sie kennen, heißt es Abschied zu nehmen. Nicht einmal das Skelett hat der Meisterregisseur übriggelassen. Der zweite Akt: gestrichen. Nur kurz sieht man, wie Kostja mit einem Revolver einen Gipsvogel aus dem Schnürboden herunterschießt. Der vierte Akt wurde ebenfalls gestrichen. Die Arkadina ist unter einem Berg von Koffern und Taschen von der Bühne verschwunden. Kostja ist zurückgeblieben und kann sich jetzt in aller Gemütsruhe seinem Suizid widmen. Selten hat man einen Mann heiterer in den Tod gehen gesehen als diesen Intellektuellen ohne Auftrag.

War die ganze Aufführung vielleicht nur ein Traum der alkoholkranken Mascha? Bobo Jelcic (51), der aus Mostar stammt, grinst über beide Ohren. Für ihn sei es wesentlich, auf das Sendungsbewusstsein der Kunst hinzuweisen. Jelcic sitzt im Foyer des Zagreb Youth Theatre und spricht vom "konservativen Umfeld", in dem er und seine Schauspieler in Zagreb arbeiten müssten.

Bevor die Gesellschaft der Arkadina die Bühne verlässt, stimmen alle Schauspieler noch ein uraltes, zu Tränen rührendes kroatisches Volkslied an. Es handelt von Eifersucht und Vergebung. Um Nachsicht hat diese Aufführung nicht zu betteln. Sie ist schlank, klug und offen und ist allen präsumtiven Festwochen-Besuchern dringend ans Herz zu legen. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 29.4.2015)