Siegfried Mattl 1954 - 2015

Foto: Standard/Newald

"Die helle und die dunkle Seite der Moderne": So lautet der Titel eines kürzlich erschienenen Sammelbands, der Siegfried Mattls 60. Geburtstag in der traditionellen Form einer Festschrift feierte. Wenig traditionell ist die Zusammenstellung der 40 Beiträge – gruppiert um Facetten des Begriffs der Moderne treffen geschichtswissenschaftliche auf literatur-, film- und kulturwissenschaftliche Perspektiven.

Genau diese interdisziplinäre Vielfalt war es auch, für die Mattl als Wissenschafter stand: Ein Historiker, der stets für Anregungen aus den Nachbardisziplinen offen war und der gerade auch durch diese Neugier und das Interesse, über den eigenen disziplinären Tellerrand zu blicken, Innovatives in seinem Fachgebiet leistete.

Der 1954 in Mürzzuschlag geborene Mattl studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien. In seiner Studienzeit in den 1970er-Jahren war er – so wie der ORF-Journalist Raimund Löw oder "Profil"-Redakteur Georg Hoffmann-Ostenhof – in der Gruppe Sozialistische Alternative engagiert. Jahrgangskollege und Grün-Politiker Peter Pilz zählte spätestens seit damals - und auch aufgrund der gemeinsamen Herkunft aus dem Mürztal - zu Mattls engsten Freunden.

Mattl habilitierte sich 1995 für "Neuere Geschichte und Zeitgeschichte" und war ab 1996 gemeinsam mit Oliver Rathkolb und Erika Weinzierl Kodirektor des renommierten Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft, dessen Leitung er 2005 übernahm. In den vergangenen Jahren wurde das Verhältnis zwischen Film und Geschichte, vor allem im Bereich der "Visual History", einer der zentralen Forschungsschwerpunkte Mattls: Anhand von "ephemeren" Filmen, etwa Amateur-, Werbe und Industriefilmen, wurden dominante Sichtweisen der Geschichte erweitert, ergänzt und korrigiert.

Die Evidenz der filmischen Aufzeichnung wurden ebenso hinterfragt, wie imaginäre Spuren in dokumentarischen oder Gebrauchsfilmen analysiert. Vor allem in den Bereichen Stadtgeschichte und (nationale) Identitätskonstruktionen fand diese Arbeit Widerhall (u.a. auch in einer Wien-Film-Serie im STANDARD). Mattl war der erste seines Fachs in Österreich, der sich diesen oftmals vernachlässigten filmischen Aufzeichnungen zuwandte. Projekte zur "Filmstadt Wien" oder "Ephemere Filme. Nationalsozialismus in Osterreich" waren das Ergebnis solcher fruchtbaren Forschungsanstrengungen.

Siegfried Mattl hat zwar nur wenige größere Monografien hinterlassen, dafür aber – ähnlich wie andere große Zeitdiagnostiker und Zeitgenossen im besten Sinne des Wortes – zahllose längere und kürzere Artikel und geschliffene Essays zu einer schwer überschaubaren Vielfalt von Themen, die von der Zeitgeschichte über die Populärkulturforschung, die Literaturwissenschaften bis zum Film reichten. Bei all dem war er ein Interessierter mit Passion: für Männermode ebenso wie für die Massenkultur, für die Literatur des 20. Jahrhunderts ebenso wie für die Musik.

Durch seine Leidenschaft gelang es ihm immer wieder, junge, begabte Mitarbeiter an sein Institut zu holen, die mittlerweile selbst im In- und Ausland Karriere machen. Mattl war ein Wissenschafter, der sich begeistern ließ und der selbst begeistern konnte, einer der wichtigsten Katalysatoren für theoretische und konzeptuelle Innovationen im weiten Feld der historischen Kulturwissenschaften. Und er war auch einer, der sich nicht mit dem akademischen Wissenschaftsbetrieb zufrieden gab, sondern durch Ausstellungen, durch Texte in Publikumsmedien auch in die Gesellschaft hinein wirken wollte.

Siegfried Mattl war – wie alle bestätigen können, die ihn etwas näher kannten – einer der uneitelsten und liebenswürdigsten Vertreter der akademischen Zunft. Er starb in der Nacht auf Samstag nach längerer schwerer Krankheit in Wien. Seine Persönlichkeit, sein umfassendes Wissen, seine Neugier, seine Begeisterung und seine Begeisterungsfähigkeit: Sie werden fehlen. (Klaus Taschwer, Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 26.4.2015)