Das Camp heißt "Residence degli Aranci", die Orangen-Residenz. Es trägt seinen schönen Namen zu Recht: Das Flüchtlingslager liegt in der fruchtbaren Ebene östlich von Catania an den Füßen des noch verschneiten Ätna. Der Weg zum Camp führt kilometerlang durch Zitrusplantagen, unterbrochen von Blumenwiesen, Olivenbäumen und Feldern mit leuchtendem rotem Klatschmohn. Auch das Lager selbst wirkt auf den ersten Blick durchaus nicht unwirtlich: eine rechtwinkelig angelegte, 180.000 Quadratmeter große Siedlung mit mehr als hundert pastellfarbenen Gebäuden. Die meisten Wohnsiedlungen an Catanias Peripherie erscheinen deutlich trostloser - auch wenn diese nicht, wie das Flüchtlingszentrum, von einem hohen Metallzaun umgeben sind.

Bis vor einigen Jahren hatten hier die GIs vom einige Kilometer entfernten US-Marine- und -Luftwaffenstützpunkt Sigonella gewohnt. Nach ihrem Umzug in eine neue Wohnsiedlung näher am Stützpunkt stand die Anlage zunächst leer. Das änderte sich Anfang 2011: Unter dem Eindruck der Flüchtlingswelle während des "Arabischen Frühlings", als in Italien innerhalb von wenigen Wochen 60.000 Tunesier ankamen, hat die Regierung von Silvio Berlusconi die Anlage in ein Aufnahmezentrum für Bootsflüchtlinge und Asylwerber umfunktioniert. In dem Camp können bis zu 4000 Personen untergebracht werden - damit ist es das größte Flüchtlingslager Europas. Auch 18 der 28 Überlebenden der Schiffskatastrophe vom vergangenen Sonntag, bei der vermutlich etwa 800 Flüchtlinge ertranken, sind nach Mineo gebracht worden.

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Flüchtlinge im Aufnahmezentrum von Mineo.
Reuters/Parrinello

Hilfswerke kritisieren, das Lager sei zu groß; die schiere Masse führe zwangsläufig zu Problemen. Die Rede ist von Drogenhandel, Prostitution und prekären hygienischen Verhältnissen. "Manchmal ist es hier fast so schlimm wie in meiner Heimat Somalia", sagt der 28-jährige Said, der vor einem Jahr nach Mineo gekommen ist. Im Camp lebten mehr als hundert Ethnien auf engstem Raum zusammen. "Es gibt ständig Konflikte und manchmal auch brutale Gewalt." Das Schlimmste sei aber die Langeweile: "Man sitzt hier nur herum, einige von uns schon jahrelang." Ohne Papiere könne man nicht arbeiten, das Taschengeld von 2,50 Euro pro Tag reiche gerade einmal alle zwei Tage für eine Schachtel Zigaretten. Eigentlich hätten die Flüchtlinge in Italien Anrecht auf einen Asylentscheid innerhalb von drei Monaten - in Mineo dauert es im Durchschnitt 15 Monate.

Von einem Gefängnis unterscheidet sich das Camp von Mineo hauptsächlich dadurch, dass es die Bewohner jederzeit verlassen können. Einige nutzen das dazu, sich morgens an die Schnellstraße Catania-Caltagirone zu stellen: Landwirte der Umgebung sammeln sie auf und lassen sie zu einem erbärmlichen Lohn auf den Plantagen arbeiten. Auf diese Weise können sich die Flüchtlinge auch einmal eine Busfahrt nach Catania leisten. Doch letztlich handelt es sich dabei um Schwarzarbeit, und so bleiben die meisten Flüchtlinge lieber im Camp, als durch ein Delikt ihre Chancen auf einen positiven Asylentscheid zu verringern.

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Der Eingang des Flüchtlingscamps.
Reuters/Parrinello

Die meisten Bewohner des Lagers stammen aus den Bürgerkriegsländern und "Failed States" Afrikas: Somalia, Mali, Äthiopien, Sudan, Eritrea. Sie sind fast ausnahmslos in Flüchtlingsbooten nach Italien gelangt. Said hat dabei dem Tod ins Auge geblickt: Er trieb zusammen mit seinem acht Jahre jüngeren Bruder Mohammed vier Tage lang in einem überfüllten Boot im Mittelmeer, bis es kenterte. Von den etwa 150 Passagieren auf dem 14 Meter langen Boot hätten nur die wenigsten schwimmen können; die Nichtschwimmer seien sofort ertrunken, erzählt Said. Die beiden somalischen Brüder und zwei Dutzend weitere Flüchtlinge wurden schließlich nach mehreren Stunden im Wasser im Rahmen der Aktion "Mare Nostrum" von einem italienischen Schiff gerettet. Mohammeds Augen füllen sich bei den Schilderungen seines älteren Bruders mit Tränen.

Nicht vor Krieg geflüchtet ist zunächst der 33-jährige Nigerianer Bright. Er war kurz vor dem Aufstand gegen den Diktator Muammar al-Gaddafi nach Libyen gegangen, um wie tausende andere afrikanische Gastarbeiter in dem damals verhältnismäßig wohlhabenden Öl- und Gasexportland zu arbeiten. Nach dem Sturz und dem Tod Gaddafis begannen islamistische Milizen und arabische Clans Jagd auf die Schwarzafrikaner zu machen; Bright zeigt seine Narben am Kopf und am Rücken, die von den Misshandlungen stammen sollen. Der Weg zurück durch die Wüste war inzwischen zu gefährlich geworden, also habe er vor einem Jahr sein ganzes Erspartes für eine Überfahrt nach Europa ausgegeben. Er sei sich des Risikos sehr wohl bewusst gewesen, "aber weiterhin in Libyen zu bleiben, wäre noch sehr viel gefährlicher gewesen".

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Fußball spielen im Camp.
Foto: AP/Tarantino

Mit einem Tarif von umgerechnet 1000 bis 1500 Euro ist die lebensgefährliche Überfahrt über das Mittelmeer nicht einmal die teuerste Etappe der Flüchtlinge. Die Durchquerung der Sahara kostet bis zu 5000 Euro. Und Mineo muss nicht Endstation bedeuten: Die "Tour Operator des Todes", wie die Zeitung "La Repubblica" die Schlepperbanden treffend bezeichnete, organisieren für 200 bis 500 Euro die Weiterfahrt nach Mailand - und von dort aus für weitere 1000 bis 5000 Euro die Reise ans finale Ziel: in die Schweiz, nach Deutschland, Österreich, Holland, Belgien, Skandinavien. Am Montag hat das Lager von Mineo Besuch von der Polizei erhalten: Die Staatsanwaltschaft von Palermo hatte festgestellt, dass sich zehn Schlüsselfiguren der Schlepperbanden im Camp von Mineo aufhalten. Sie waren einst ebenfalls als Bootsflüchtlinge nach Italien gelangt - und sind von Opfern dieser modernen Menschenhändler zu Tätern geworden.

Im Inneren und vor dem Lager herrscht eine bedrückende, eine traurige Stimmung - trotz der warmen Sonne, dem hellblauen Frühlingshimmel, dem Duft der Blumen und Orangenblüten. Auf der Straße, die zum Eingang des Camps führt, stehen verloren einige Gruppen von Flüchtlingen herum; niemand lächelt, niemand scherzt, niemand lacht. Auf einem kleinen Sportplatz am Rand des Lagergeländes wird Basketball gespielt, andere Flüchtlinge schieben klapprige Fahrräder vor sich her, mit denen sie hin- und wieder ins Städtchen Mineo fahren. Dieses klebt malerisch an einem Berg über dem Camp und über der Ebene; es steht auf den Resten einer arabischen Festung, verfügt über eine Kirche aus dem 14. Jahrhundert und zählt kaum mehr Einwohner als das Flüchtlingslager. Am Eingang des Camps stehen gelangweilt drei italienische Soldaten vor ihrem gepanzerten Fahrzeug. (Dominik Straub, derStandard.at, 24.4.2015)