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Der deutsche Literaturnobelpreisträger Günter Grass ist im Alter von 87 Jahren verstorben.

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Grass (Mi.) mit dem späteren Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll (li.) und dem damaligen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt (re.) im November 1970 während des 1. Kongresses des Verbands Deutscher Schriftsteller in Stuttgart.

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Günter Grass kocht. Aufnahme aus dem Jahr 1969.

Foto: APA/dpa/Horst Ossinger

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Grass im September 1965 vor der angekohlten Tür seines Hauses in Berlin-Friedenau. Grass wohnte in Berlin in direkter Nachbarschaft zum Schweizer Schriftsteller Max Frisch.

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Grass (Mi.) mit seinem Schriftstellerkollegen Siegfried Lenz (li.) und dem Literaturkritiker Fritz J. Raddatz (re.) beim Kongress des Verbands Deutscher Schriftsteller in München 1980.

Foto: dpa/Hanns-Jochen Kaffsack

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1999 nimmt Grass von Schwedens König Carl XVI. Gustaf den Nobelpreis für Literatur entgegen.

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Günter Grass im TV-Interview.

ARD

"Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann." So beginnt das Werk, das Günter Grass 1959 mit einem Schlag berühmt machte: "Die Blechtrommel", die drei Millionen Mal verkauft, in 24 Sprachen übersetzt, 20 Jahre später von Volker Schlöndorff verfilmt und mit einem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet wurde.

Generationen von Schülern kennen dieses Buch über den kleinwüchsigen Sonderling Oskar Matzerath, der den Aufstieg der Nazis blechtrommelnd und glaszerschreiend begleitet. "Junge, dreijährig, stellt Wachstum ein" – so beschrieb Grass dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki 1958, als sie sich zum ersten Mal trafen, die Handlung seines Jahrhundertromans. "Dieser Mann ist ein Störenfried, ein Hai im Sardinentümpel, ein wilder Einzelgänger in unserer domestizierten Literatur, und sein Buch ist ein Brocken", jubelte damals der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger. Jetzt ist Günter Grass mit 87 Jahren gestorben: in seiner Ersatz-Heimatstadt Lübeck, jener norddeutschen Hansestadt, die gleich zwei Literaturnobelpreisträger – neben Grass auch Thomas Mann – mit Literaturhäusern würdigt.

"Bildhauer, Grafiker und Schriftsteller"

Geboren wurde Grass am 16. Oktober 1927 in Danzig, seine Eltern betrieben dort ein Kolonialwarengeschäft. "Und aufgewachsen bin ich zwischen / dem Heiligen Geist und Hitlers Bild", schrieb Grass später in seinem Gedicht "Kleckerburg". 1944 wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen. Nach einer Verwundung in den letzten Kriegstagen kam er bis 1946 in amerikanische Kriegsgefangenschaft in Bayern. Nach dem Krieg absolvierte er in Düsseldorf zunächst eine Steinmetzlehre, danach studierte er bis 1952 Grafik und Bildhauerei an der Düsseldorfer Kunstakademie. "Bildhauer, Grafiker und Schriftsteller", antwortete er später stets, wenn er nach seinem Beruf gefragt wurde, und legte auf genau diese Reihenfolge Wert.

Er schloss sich der Gruppe 47 an, einem 1947 entstandenen Verbund von Schriftstellern. "Die Blechtrommel" schrieb er in Paris. Sie bildet den Auftakt der sogenannten "Danziger Trilogie", zu der auch "Katz und Maus" (1961) und "Hundejahre" (1963) zählen. Mehr als vierzig Jahre später sollte Grass noch einmal eine "Trilogie der Erinnerung" schreiben – mit den autobiografischen Bänden "Beim Häuten der Zwiebel" (2006), "Die Box" (2008) und "Grimms Wörter" (2010).

Jemand, der "das Maul aufmacht"

Doch Grass war keiner, der nur im Elfenbeinturm tippte, sondern jemand, der "das Maul aufmacht", wie er selber einmal sagte. Als der damalige Berliner Bürgermeister Willy Brandt (SPD) 1961 in einer Runde von Schriftstellern fragte, wer ihm mit Ideen für Reden helfe könne, meldete sich Grass: "Ich, der Bürgerschreck, war der Einzige, der den Finger hob."

1965, 1969 und 1972 machte Grass für die SPD Wahlkampf, wenngleich er damals nicht Parteimitglied war. Er unterstützte die Ostpolitik Willy Brandts, vor allem die Aussöhnung mit den polnischen Nachbarn lag ihm am Herzen – dies thematisierte er auch in seiner 1992 erschienenen Erzählung "Unkenrufe". Dass Brandt ihn nie mit einem politischen Amt betraut hatte, grämte Grass. Dennoch trat er 1982 in die SPD ein und zehn Jahre später – aus Protest gegen die seiner Meinung nach zu restriktive Asylpolitik der SPD – wieder aus. Doch er blieb politisch aktiv, kämpfte gegen Atomkraft, für eine Vermögensteuer und lehnte die Wiedervereinigung Deutschlands ab. Eine Konföderation der beiden Staaten wäre in seinen Augen zweckmäßiger gewesen.

"Wir lebten in einer kommoden Diktatur"

1995 war Grass wochenlang in den Schlagzeilen – nicht nur mit seinem Roman "Ein weites Feld", sondern auch mit der Debatte darüber. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki verriss das Werk, in dem Grass anhand von Mauerfall und Wiedervereinigung die deutsche Geschichte thematisiert, im "Spiegel" gnadenlos, das Ganze war auf dem "Spiegel"-Cover auch noch unmissverständlich bildlich dargestellt. "Doch muß ich sagen, was ich nicht verheimlichen kann: daß ich Ihren Roman ganz und gar mißraten finde. Das ist, Sie können es mir glauben, auch für mich sehr schmerzhaft. Sie haben ja in dieses Buch mehrere Jahre schwerer und gewiß auch qualvoller Arbeit investiert", schrieb Reich-Ranicki. Und weiter: "Meist ergeben die klangvollen Wörter und Wendungen erstaunlich wenig oder gar nichts." Grass zum Trost: Die auf die DDR bezogene Aussage des Protagonisten Fonty – "Wir lebten in einer kommoden Diktatur" – wurde zum geflügelten Wort, den Hans-Fallada-Preis für das Buch erhielt Grass auch.

Krönung Literaturnobelpreis

Die größte und wichtigste Auszeichnung – den Literaturnobelpreis – erhielt er 1999. Als Begründung führte die Schwedische Akademie an: "Weil er in munterschwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat." Und: "Der Spatenstich des Günter Grass in die Vergangenheit gräbt tiefer als der der meisten, und er findet, wie die Wurzeln des Guten und Bösen miteinander verschlungen liegen." Die Akademie war auch der Überzeugung, dass die "Blechtrommel" zu den "bleibenden literarischen Werken des zwanzigsten Jahrhunderts gehören wird". Ausgelassen tanzte der damals 72-Jährige bei der Verleihung des Preises.

Spätes Bekenntnis

Sieben Jahre später stand er wieder im Kreuzfeuer der Kritik. Kurz vor Erscheinen seiner Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" räumte Grass im Sommer 2006 in einem Gespräch mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) ein, mit 17 Jahren der Waffen-SS angehört zu haben. "Mir ging es zunächst vor allem darum rauszukommen. Aus der Enge, aus der Familie. Das wollte ich beenden, und deshalb habe ich mich freiwillig gemeldet", erklärte er und betonte aber, an keinen Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein. Eigentlich habe er bis dahin gedacht, mit seinen Büchern genug gegen das Vergessen angeschrieben zu haben. Doch letztendlich habe er seine persönliche Vergangenheit nicht ausklammern können: "Das musste raus, endlich."

Grass war sich im Klaren darüber, was kommen würde, und meinte: "Wer richten will, mag richten." So geschah es auch, sein Nimbus als moralische Instanz war angekratzt, das späte Bekenntnis wurde auch als Teil einer PR-Kampagne für das Buch gewertet.

Provozierendes Prosagedicht

2012 provozierte Grass noch einmal gewaltig. In der "Süddeutschen Zeitung" (SZ) veröffentlichte er das Prosagedicht "Was gesagt werden muss". Darin warf er Israel vor, mit seinen Atomwaffen den "ohnehin brüchigen Weltfrieden" zu gefährden. "Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird", heißt es darin. Grass erntete viel Kritik für dieses Gedicht.

In einer Lübecker Klinik ist der passionierte Familienmensch (sechs Kinder von drei Frauen, zwei Stiefkinder, 18 Enkel, ein Urenkel) nun an einer Infektion gestorben. Das Günter-Grass-Haus in Lübeck hat zum Gedenken auf seiner Website ein Gedicht von Grass aus dem Jahr 1997 veröffentlicht: "Mit einem Sack Nüsse will ich begraben sein und mit neuesten Zähnen. Wenn es dann kracht, wo ich liege, kann vermutet werden: Er ist das, immer noch er." (Birgit Baumann, derStandard.at, 13.4.2015)