Michael Glawogger auf einem Markt in Dakar: ein Filmstill aus seinem unvollendet gebliebenen "Film ohne Namen".

Foto: lotus film

Wien - Einen Spiegel, der über einem Schreibtisch angebracht ist, benötigt er definitiv nicht. "Wer will sich schon selbst beim Nachdenken zuschauen?", fragt der Reisende mit einigem Recht. Lieber sucht er da schon einen neuen Platz für das Möbelstück. Auch der Verlockung von Frühstücksbuffets kann er widerstehen, dem Luxus des Room-Service hingegen viel abgewinnen. Besonders allergisch reagiert er auf all jene Anstrengungen, die dem Hotelzimmer den Anstrich des Individuellen zu verleihen versuchen. Wasserhähne, die vielleicht toll aussehen, die aber keiner zur bedienen weiß; Flaschenöffner, die ausgespuckten Kaugummis nachempfunden sind; dekorative "Kunst", ganz allgemein.

Am Ende von Michael Glawoggers Buch 69 Hotelzimmer, das in Wahrheit 96 Reiseinträge umfasst - minus eines 13., der aus Aberglaube weggelassen wurde -, hat man ein schärferes Bild von den Vorlieben des Erzählers gewonnen. Diesen sollte man zwar nicht mit Michael Glawogger gleichsetzen, doch es gibt viele Ähnlichkeiten mit dem im April 2014 beim Dreh zu seinem Film ohne Namen so plötzlich verstorbenen Filmemacher. Das Reisen war schließlich dessen Passion. Das weiß jeder, der Glawoggers wirkkräftige Dokumentarfilme, von Megacities bis Whores' Glory, kennt.

Das in Zusammenarbeit mit seiner Frau Andrea und Eva Menasse posthum erschienene Buch fügt diesen filmischen Expeditionen nun eine betont persönliche, nicht selten verschmitzte Einzelperspektive hinzu. Es legt von Glawoggers offenem, vorurteilsfreiem Zugang zur Welt Zeugnis ab. Er ist keiner dieser Reisenden mit vorgefasster Weltanschauung. Deshalb ist seine Neugierde an der Fremde, am Eigensinn einer nicht immer gleich durchschaubaren Kultur auch so unheimlich ansteckend.

69 Hotelzimmer ist ein Buch, das den Blick hinaus auf das ungeordnete Leben richtet, aus Fenstern, von Balkonen und über Spaziergänge, die die Sicht auf quirlige Stadtszenen freilegen, die Begegnungen ermöglichen und zu Angeboten führen, die man nicht ausschlagen kann. Zugleich ist es ein Buch über den Blick zurück auf die oft wagemutigen Destinationen eines lebenslangen "travellers" - "Reisen Sie nie an schöne Orte?", wird er einmal gefragt.

Dem Zufall entgegen

Das Abschreiten der Orte gehorcht keiner klaren Dramaturgie. Nicht auf die große Erzählung wollen die drei bis fünf Seiten langen Miniaturen hinaus, sondern vielmehr darauf, den flüchtigen Moment zu bewahren, das Ephemere festzuhalten. Reisen als ein Arrangement von Koinzidenzen, das kann man nicht buchen. "Anticipating serendipity", den Glücksfall voraussehen, hat Glawogger dieses Prinzip einmal in Bezug auf seinen letzten, unvollendet gebliebenen Film genannt.

Die früheste Reiseerinnerung führt zurück ins Jahr 1968, auf ein Klappbett in Jugoslawien, wo sich ein Bub von den Silber-Gruselkrimis von Dan Shocker in utopische Szenarien versetzen lässt. Die späteste Eintragung bietet eine Vorahnung auf eine trostlose Zukunft des Jahres 2017, in der alle (Ho-tel-)Informationen auf einem unverlässlichen Smartphone gesichert sind. Nur ein streunender Hund verkörpert noch jene Willkür, die diesen "Reisenden als Fluchttier" dorthin führt, wo unerwartete Eindrücke warten.

Übertritt ins Surreale

Das Spiel mit dem Unvorbereiteten, mit der glücklichen Überraschung, die sich oft über das (nicht zuletzt durch Alkohol beförderte) Verschmelzen mit einem Kollektiv vollzieht, bietet einen roten Faden für das Buch. Da überrascht es nicht, dass Glawogger die Grenze ins Surreale wiederholt überschreitet. Bangkok erscheint ihm einmal als Ort, in dem die Bewohner (selbst George Clooney im Fernsehen) in einen tiefen Märchenschlaf gesunken sind. In Nordkorea liefert eine Dick & Doof-Traumszene den Schlüssel zum Verständnis des Überwachungsstaates.

Der Traum ist bei Glawogger die Nachbarzelle der Realität, die er als irdisch-sinnlicher Ort beschreibt: Käuflicher Sex, Gewaltausbrüche auf der Straße, rituelle Schlachtungen - all das nimmt der Erzähler mit der Selbstverständlichkeit eines Weltbürgers auf, dem an der Vielfalt des Daseins gelegen ist. Die anonymen Hotelzimmer sind Orte des Übergangs. Hierhin kehrt man zurück, um sich zu sammeln. Oder um zu baden, wie in jenem Hotel in San Francisco, wo im Stammzimmer eine gusseiserne Wanne steht. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 11/12.4.2015)