Hanni Rützler, Wolfgang Reitler
Muss denn Essen Sünde sein?

Orientierung im Dschungel der Ernährungsideologien

Brandstätter Verlag 2015
192 Seiten, 19,90 Euro

Foto: brandstaetter verlag

"Genuss ist nicht das Gegenteil von Gesundheit, sondern der Schlüssel dafür, um nicht nur gesund, sondern auch gut zu leben", schreiben die Ernährungswissenschafterin Hanni Rützler und Kulturwissenschafter Wolfgang Reiter. Längst gehe es bei unserer Ernährung um die Frage nach dem richtigen Leben.

In ihrem Buch "Muss denn Essen Sünde sein?" nehmen sie aktuelle Trends und Entwicklungen aus dem weiten Feld des Essens aus ernährungswissenschaftlicher, philosophischer und kulturell-soziologischer Perspektive unter die Lupe.

Mensch und Fleisch

Ein bedeutender Teil dreht sich um das Fleischessen, ein Thema, das nach wie vor kontrovers diskutiert wird. "Ist es möglich, dass was seit Jahrtausenden als normal gilt, dennoch ein ungeheures Unrecht ist?", wird die deutsche Literatur-Journalisten Iris Radisch zitiert. Auf diese Frage finden Rützler und Reiter auch unter Zuhilfenahme mehrerer Philosophen keine abschließende Antwort.

Man könne den zunehmenden Ekel vor Blut, Tod und Fleisch als Ausdruck wachsender Zivilisiertheit sehen (wie viele Veganer das tun), doch viel eher dürfte er ein Zeichen für eine tiefergreifende Entfremdung sein, die wir vor unseren "archaichschen Triebregungen" haben. Schließlich ekeln wir uns ja mittlerweile nicht nur vor blutigem Fleisch, sondern auch vor Schweißgeruch, Achsel- und Schambehaarung sowie Tabakrauch, schreiben die Autoren.

Auf alle Fälle müsse man davon absehen, Tiere nur noch als Rohstoff zu betrachten, halten es die Autoren mit dem Philosophen Konrad Paul Liessmann. Als gangbaren Weg erachten sie es, Fleisch nur in Maßen zu genießen und darauf zu achten, dass die Tiere gut (nicht unbedingt gleichzusetzen mit "artgerecht") gehalten wurden.

"Zeitgeist" entscheidend

Nun sind moralisch-ethische Argumente längst nicht die einzigen Gründe, sich vegan zu ernähren – einer Hamburger Studie zufolge ist vor allem der "Zeitgeist" für junge Menschen entscheidend. Aber auch das Erlangen von Jugend und Schönheit werden als Beweggründe für fleischlose Ernährung genannt.

Dass Veganismus – so wie viele Spielarten extremer Ernährungsformen – längst auch als Ersatzreligion fungiert, darf man als bekannt voraussetzen. "Abgesehen von Sex und Religion gibt es wohl kaum ein Gebiet, auf dem so viele Mythen, Glaubenssätze und Heilsversprechen existieren wie bei der Ernährung", so die Autoren – und liefern unzählige Beispiele rund um verdauungsfördernde Joghurts, Steinzeit-Diäten oder auch dem neuen Kult ums Kochen à la Jamie Oliver.

Jede Umstellung positiv

Das Argument einer gesunden Lebensweise als alleinigen Grund für vegane Ernährung könne man jedenfalls nicht gelten lassen, schreiben Rützler und Reiter: "Das geht auch mit einer klassisch vegetarischen und einer ausgewogenen Ernährung, bei der Fleisch und Wurstwaren nur in Maßen genossen werden."

In diesem Zusammenhang spannend ist eine Untersuchung der Berliner Charité, derzufolge Ernährungsumstellungen, welcher Art auch immer, einen enormen Placeboeffekt haben und Beschwerden aller Art lindern können. "Es ist die aktive Lebensentscheidung, sich anders zu ernähren, die vielen hilft, nicht wie oder womit man sich ernährt", heißt es im Buch. In diesem Sinne, quasi als Stütze und Ordnungssystem für die Psyche, sei nichts gegen Vegetarismus oder Veganismus einzuwenden.

Mehr Gelassenheit

Die Autoren werden nicht müde zu betonen, dass wir die Freude am und die Fähigkeit zum Genuss verlernt haben. Das zeigt auch eine aktuelle Befragung, in der 91 Prozent angaben, dass Genuss erst das Leben lebenswert macht. Gleichzeitig gaben 46 Prozent an, dass es ihnen immer seltener gelingt, tatsächlich zu genießen.

Wozu auch Studien beitragen, die davor warnen, dass wahlweise rotes Fleisch, Kohlenhydrate, Zucker, Rotwein, Antibiotika-Hühnern oder auch der Konsum von "sehr viel Kuhmilch" oder Tofu negative gesundheitliche Auswirkungen mit sich bringt. Es gebe praktisch kein Lebensmittel, dessen gesunder oder ungesunder Einfluss (oft genug beides zugleich) nicht schon wissenschaftlich nachgewiesen wurde.

Nicht zuletzt deshalb plädieren die Autoren dafür, zwar auf eine gesunde, abwechslungsreiche Ernährung zu achten, allen radikalen Ernährungsideologien aber eine Absage zu erteilen und vor allem Gelassenheit und Augenmaß walten zu lassen. Dazu gehöre, gelegentlich auch mal die Vernunft hintanzustellen und einfach dem Genuss zu frönen, ganz egal wie gesund oder ungesund der auch sein möge. Ein wichtiges Buch. (Florian Bayer, derStandard.at, 13.4.2015)