Das Erinnerungsmal zum Gedenken an die Opfer des Durchgangslagers Strasshof, errichtet 2011.

Foto: Verein Arbeitsgruppe Strasshof

Am Morgen des 26. März 1945 machte sich eine Staffel von B-24-Liberator-Bombern am Flugfeld von Torretta in der Nähe von Cerignola, Italien, zum Abflug bereit. Das Missionsziel: der Verschubbahnhof von Strasshof an der Nordbahn, zehn Kilometer östlich von Wien. In einem der Flugzeuge nahm Sergeant Stanley E. Todd seinen Platz am Maschinengewehr im Bug der Maschine ein. Der 22-Jährige sollte an diesem Tag nicht mehr zurückkehren.

"Menschenware" in Strasshof

Am selben Tag brach von seiner Wohnung in Wien SS-Hauptsturmführer Siegfried Seidl nach Strasshof auf. Der ehemalige Kommandant des Konzentrationslagers Theresienstadt war nun Leiter der Außenstelle des "Sonderkommandos Eichmann" in Wien. An diesem Tag wollte er die Einwaggonierung von über 2.000 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern zum Abtransport aus dem Durchgangslager Strasshof persönlich überwachen. Sie waren die letzten einer über 20.000 Personen großen Gruppe, die im Sommer 1944 aus Ungarn nach Strasshof deportiert worden war. Es waren jüdische Männer, Frauen und Kinder, die einer vermeintlichen Gnade Eichmanns folgend nicht nach Auschwitz kamen.

Denn neben der Erfüllung ihrer Massenmordpläne sollte die "Endlösung" in Ungarn für die SS auch ein lukratives Geschäft bleiben. Zum einen wurden Geldzahlungen vom jüdischen Rettungskomitee in Budapest erpresst, damit diese Menschen nicht an den "Mühlen" – so der Begriff in den internen Telegrammen – abgeliefert wurden. Zum anderen erwirtschaftete die SS Gewinne, indem sie die Menschen als Zwangsarbeiter an Bauern und Wirtschaftsbetriebe "vermietete". Schon im Herbst 1944 war ein Teil von ihnen nach Ende der Erntesaison in das Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht worden. Himmler "legte sie auf Eis" – die "Menschenware" sollte frisch bleiben, denn er hoffte, sie als Zeichen seines guten Willens an die Alliierten "verkaufen" zu können und sich so seinen Platz in einem Nachkriegsdeutschland zu sichern.

Der Rest verblieb in Wien und Niederösterreich, arbeitete weiter bei Bauern oder in Fabriken, eingesperrt in kleine Lager, die sie nur zur Arbeit verlassen durften. Im Frühjahr 1945 fürchtete Himmler um den Verlust seiner wertvollen "Ware". Einen Teil der "Strasshof-Gruppe" trieb die SS auf Todesmärschen Richtung Mauthausen, eine andere Gruppe wurde wieder nach Strasshof gebracht, um von hier ins KZ Theresienstadt transportiert zu werden.

Eingesperrt in Waggons

Bereits am frühen Morgen an diesem 26. März wurden die Gefangenen aus dem direkt neben der Bahn gelegenen Durchgangslager in die bereitgestellten Waggons eingesperrt. Unter ihnen befand sich der acht Jahre alte Paul Hartal. Gemeinsam mit seiner dreijährigen Schwester und seiner Mutter war er im Sommer 1944 aus Ungarn nach Strasshof deportiert worden. Bei der mehrtägigen Fahrt in geschlossenen Waggons hatte es viele Tote durch die Sommerhitze gegeben. Doch für viele war Strasshof eine Chance zu überleben. Vor allem für Kinder, die in Auschwitz sofort nach ihrer Ankunft ermordet wurden.

Bomber im Anflug

Die Luftabwehr bemerkte an jenem Morgen den Anflug des Bomberverbandes erst spät. Die Waggons mit dem jüdischen Gefangenen blieben verschlossen, während die Bewohner der umliegenden Häuser entweder in ihre Keller oder in den nahe gelegenen Wald flohen. Dorthin hatte sich auch Seidl gerettet, als die ersten Bomben zu fallen begannen. Das Trefferbild sollte von der US-Luftwaffe als "exzellent" bewertet werden. Die ersten Bomben trafen direkt die Bahnstrecke, ein Munitionstransporter erhielt einen Volltreffer, glühende Metallteile flogen über einen Kilometer weit und lösten in der Umgebung Brände aus.

Pauls Mutter kauerte sich über ihre Kinder, während Trümmer wie Schrapnellteile durch die Holzwände des Waggons schlugen, den die Druckwellen der Explosionen in die Höhe rissen. Während sich einzelne Wolkenschleier zwischen das Geschehen am Boden und die Bomberstaffel schoben, löste ein Bombenschütze zu spät aus. Die Geschosse detonierten im Siedlungsgebiet neben der Bahn und im Föhrenwald daneben, wo sich viele Menschen in Sicherheit bringen wollten. Innerhalb weniger Minuten war alles vorbei.

Eisenstränge drehten sich in den Himmel

Durch die Wucht der Explosionen war der Eisenbahnwaggon, in dem sich Paul befand, beinahe in zwei Hälften gerissen worden. Er sah, wie seine Spielkameradin blutüberströmt von ihrer Mutter davongetragen wurde. Auf dem ganzen Bahnhofsgelände lagen Tote und Verletzte. Wo sich noch vor kurzem die parallelen Schienen der Nordbahn in beide Richtungen erstreckt hatten, befand sich nun eine Kraterlandschaft und die Eisenstränge drehten sich verformt in den Himmel. Einige der Häuser neben dem Bahngelände hatten Volltreffer erhalten. Die Bewohner, die sich im Keller versteckt hatten, waren tot.

Der Bomber von Sergeant Todd war vom Flakfeuer über Strasshof beschädigt worden. Die Motoren an der rechten Tragfläche brannten und die Liberator verlor den Anschluss an den Bomberverband. Dem Piloten gelang es noch, den Alpenbogen zu überfliegen, doch dann gab er der Mannschaft den Befehl, "sich in die Seide zu werfen". Neun von zehn Fallschirmen öffneten sich. Todd beobachtete, wie sich jener des Piloten im Flügel der abschmierenden Maschine verfing und dieser von ihr in den Tod gerissen wurde. Er hingegen landete unversehrt und ergab sich der deutschen Polizei als Kriegsgefangener. Er war in Sicherheit, vorerst.

In Strasshof versorgte man derweil die Opfer des Bombenangriffs. Die jüdischen Verwundeten wurden auf Weisung von Seidl in Lkws verladen und in das jüdische Spital nach Wien gebracht. Er könne ihm gratulieren, teilte er dessen Leiter Emil Tuchmann mit. Er feiere heute einen zweiten Geburtstag. Als die Bomben im Wald um ihn herum detoniert seien, habe er schon damit gerechnet, dass es vorbei sein würde. Doch jetzt sah er wieder mit Optimismus in die Zukunft. Er suchte Leumundszeugen für die Zeit nach Kriegsende.

Die Befreier

Paul wurde mit seiner Mutter und seiner Schwester ins Durchgangslager zurückgebracht. Der Bomberangriff hatte ihren Abtransport ins KZ verhindert. Die Lagerwachen verschwanden in den folgenden Tagen, Essen gab es keines mehr. Gemeinsam mit den Ortsbewohnern plünderten die Gefangenen abgestellte Lebensmitteltransporte am Bahnhof. Am 10. April erreichte die Rote Armee Strasshof. 389 sowjetische Soldaten fielen bei Kämpfen in der Umgebung, auf der Gegenseite elf deutsche Soldaten.

Es entstand anscheinend der Plan, das Durchgangslager als Unterbringung zu nutzen. Der komplette Hausrat der umliegenden Häuser wurde geplündert, doch das mit Ungeziefer verseuchte Lager eignete sich nicht. Das geplünderte Gut wurde in den Straßengraben geschmissen. Die ungarischen Juden begrüßten ihre Befreier, doch diese zeigten wenig Interesse. Ein betrunkener Soldat bedrohte Paul mit seiner Waffe. Die Frauen versteckten sich vor den Soldaten. Eine organisierte Auflösung des Lagers erfolgte nicht. Die Befreiten packten ihre Habseligkeiten in eine der vielen herumstehenden Schubkarren von der angrenzenden Baustelle des Flugfelds Deutsch-Wagram, wo einige von ihnen vor ein paar Tagen noch arbeiten mussten. Zu Fuß machten sie sich auf den Weg in ihre Heimat Ungarn.

Szenenwechsel: Wetzelsdorf, Graz

Acht Tage zuvor, am 2. April, war der über Strasshof abgeschossene Maschinengewehrschütze Stanley Todd mit dem Rest der Flugzeugbesatzung überraschend aus einem Kriegsgefangenenlager in die SS-Kaserne Wetzelsdorf in Graz überstellt worden. Alle ahnten, dass dies nichts Gutes bedeuten konnte. Nach einem kurzen Verhör mussten sie ihre Hemden ausziehen. Die Männer rechneten jeden Moment damit, von den um sie herumstehenden SS-Männern erschossen zu werden. Doch plötzlich lenkte diese etwas ab. Eine Gruppe ungarischer Juden vom Ostwallbau in Rechnitz traf in der Kaserne ein.

Die Amerikaner wurden in eine kleine Zelle gesperrt, anscheinend vergessen und einige Tage darauf ins Lager Moosberg in Kärnten gebracht, wo sie ihre Befreiung erlebten. Einen Monat später, im Mai 1945, fand man in der Kaserne Wetzelsdorf die Gräber von Hunderten ermordeten Zwangsarbeitern, ungarischen Juden und Widerstandskämpfern. Sie waren Opfer jener SS-Männer geworden, die vermutlich die Hinrichtung der Kriegsgefangenen geplant hatten.

Nach Kriegsende

Nach Kriegsende tauchte Siegfried Seidl in der Nacht des 30. Juli 1945 vor der Wohnung von Tuchmann auf. Ob er ihm nicht weiterhelfen könne und bestätigen, dass er immer ein "Judenfreund" gewesen sei. Tuchmann verständigte die Polizei, die Seidl verhaftete. Im Herbst 1946 wurde ihm vom Volksgericht Wien der Prozess gemacht. Seidl berief sich auf Befehlsnotstand, er habe immer nur aus Angst vor seinen Vorgesetzten gehandelt. Das Gericht schenkte seiner Schilderung keinen Glauben. Er wurde als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und am 4. Februar 1947 in Wien hingerichtet.

Paul Hartal wurde nach seiner Heimkehr in Ungarn nicht glücklich. Der Antisemitismus lebte im kommunistischen Ungarn als Antizionismus weiter, religiöse Juden wurden verdächtigt, Vaterlandsverräter und Agenten des Westens zu sein. In Israel, wohin er 1957 auswanderte, konnte Hartal sein künstlerisches Talent entfalten. Er entwickelte das Konzept des lyrischen Konzeptionalismus, an dem er sein malerisches und dichterisches Schaffen orientierte. Die Erlebnisse in Strasshof blieben in seinen Gedichten präsent. Er lebt heute in Montreal, Kanada.

Sergeant Stanley E. Todd kehrte nach dem Krieg in die USA zurück. Bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2004 wollte er über seine Kriegszeit nicht mehr reden. Erst seiner Tochter gelang es anhand eines Zeitungsberichts aus dem Jahr 1945, die Geschichte ihres Vaters zu rekonstruieren.

Es blieben kaum Spuren in Strasshof

In Strasshof blieben kaum Spuren des Lagers. Lediglich eine Massengrabanlage am Friedhof legte Zeugnis ab von der Geschichte der Zwangsarbeit, in der die ungarischen Juden nur das letzte Kapitel gewesen waren. Die Mehrzahl der dort bestatteten Opfer sind Ukrainer und Russen: Männer und Frauen jeden Alters, auch mehr als 25 Kinder unter sechs Jahren, deren Mütter man teils unter Zwang, teils unter Vortäuschung, in Deutschland gut leben zu können, nach Strasshof gebracht hatte. Deren Geschichte wurde bis heute kaum erzählt, waren sie doch nach dem Krieg in ihrer Heimat dem Verdacht ausgesetzt, Kollaborateure und Feinde der Sowjetunion zu sein.

In Strasshof versuchte man die Geschichte zu vergessen, war man mit dem eigenen Leid beschäftigt, wollte das der anderen nicht sehen. Das Soldatengrab der Gemeinde zählt 112 Tote aus Strasshof. Gut 30 tote Zivilisten aus dem Ort werden auf einem Grabstein erwähnt. Neben den 471 Toten im Massengrab bilden sie eine erste Bilanz der NS-Herrschaft. Eine Bilanz, nach deren Ursachen lange Jahre nicht gefragt wurde. Im Jahr 1988 legte die Gemeinde einen Gedenkstein am Massengrab nieder. 2009 begann eine lokale Initiative mit der Erforschung der Geschichte des Durchgangslagers. Sie stellte fest, dass es sich bei diesem Lager um eines der großen Verteilungslager in Österreich gehandelt hatte, von dem aus ganz Ostösterreich mit Zwangsarbeitern "beliefert" wurde. Denn Zwangsarbeit war kein lokales Phänomen, auf wenige Orte beschränkt, sondern beinahe in jedem größeren Dorf befand sich seit 1943 ein Lager.

Jahrzehnte des Schweigens

Heute leben nur mehr jene, die diese Zeit als Kinder und Jugendliche erlebt haben. Die Jahrzehnte des Schweigens machen es ihnen schwierig, über diesen Teil ihrer Erinnerungen zu sprechen. Doch darüber zu sprechen bleibt notwendig, damit "Niemals vergessen" nicht zur Floskel und das Erinnerungsmal in Strasshof kein steinernes Relikt bleibt. (Bernhard Blank, derStandard.at, 29.4.2015)