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Kamel Daoud schreibt nicht nur für eine algerische Tageszeitung eine Kolumne, er setzt das Werk von Albert Camus als Aufklärer fort. Für ihn ist es undenkbar, Algerien zu verlassen.

Foto: Nacerdine Zebar / Gamma-Rapho/laif

STANDARD: Wie beschreiben Sie Ihre Lage angesichts der Fatwa, die im vergangenen Dezember gegen Sie ausgesprochen worden ist?

Kamel Daoud: Ich versuche mein Leben so normal wie nur möglich fortzusetzen, wenngleich ich zugebe, sehr viele Vorsichtsmaßnahmen getroffen zu haben. Die Fatwa hindert mich keineswegs daran, weiterhin zu schreiben und zu arbeiten. Ich versinke keinesfalls in Angst. Ich arbeite und reise viel. Aber es ist für alle schwer. In gewisser Weise existiert eine Fatwa gegen die ganze Welt.

STANDARD: Haben Sie je daran gedacht, ins Exil zu gehen und aus Algerien auszuwandern?

Daoud: Nein, niemals. Algerien ist mein Lebensmittelpunkt. Zwar bin ich oft in Frankreich, was mit meiner Arbeit zu tun hat, doch sollte ich eines Tages die Entscheidung treffen, aus Algerien auszuwandern, dann werde ich diese nur treffen, wenn ich es so will.

STANDARD: Sind Sie Atheist, Agnostiker oder gar gläubig?

Daoud: Ich bin gläubig, aber nicht im Sinne von Riten. Ich glaube nicht an Religionen, für mich sind sie Dogmen und Ideologien. Die Frage, ob man glaubt oder nicht, ist sehr persönlich. Ich für mich lehne die Religion ab. Denn leider hat uns Religion nicht den Frieden gebracht, sondern sehr viel Gewalt, eine enorme gesellschaftliche Spaltung und viele, viele Lügen. All das lehne ich ab. In einem meiner Bücher habe ich geschrieben: Zu Gott gehe ich selbst und zu Fuß. Ich brauche niemanden, der mir die Reise zu ihm organisiert.

STANDARD: Welche Erinnerungen haben Sie an das sogenannte Schwarze Jahrzehnt in Algerien, den Bürgerkrieg? Gibt es Parallelen zur Gegenwart und zum Krieg gegen den "Islamischen Staat"?

Antwort: Ich glaube, die Islamisten und die Jihadisten kommen aus demselben Milieu, und sie haben dieselben Ziele, die sie mit denselben Methoden verfolgen. Für uns in Algerien ist das, was jetzt aktuell in der Welt passiert, eine Erinnerung. Das ist uns bereits passiert. In den 1990er-Jahren haben wir denselben Horror erlebt. Es gab Leute, die Kinder ermordet haben. Es gab Leute, die Journalisten und Karikaturisten getötet haben. Wir haben diesen Terror in Algerien bereits durchlebt. Wir haben die Angst erlebt, und es ist nicht lange her.

STANDARD: Gibt es eine "Waffe", mit der man dem Islamischen Staat entgegentreten kann? Und was richten die Sprache, die Literatur aus?

Daoud: Ich glaube, es ist die Kultur ganz generell. Es gibt auch gar keinen anderen Weg. Man wird nicht als Islamist geboren, man wird zum Islamisten gemacht. Eben weil man einzelne Bücher gelesen hat, weil man Personen zugehört hat. Weil man bestimmte Dinge gesehen hat und selbst keine andere Lösung findet. Wissen Sie, in Algerien oder Marokko kostet einer meiner Romane 17 Euro, was, gemessen an der Kaufkraft, mehr als 150 Euro für die Käufer bedeutet, ein Vermögen. Während die Bücher der Islamisten gratis verteilt werden. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass es eben Saudi-Arabien ist, das viele dieser Bücher finanziert. Zudem gibt es abertausende hochreligiöse junge Muslime, die, ebenso von Saudi-Arabien finanziert, in Nordafrika und der arabischen Welt predigen. Sie sind sehr zahlreich und haben immer mehr Einfluss auf die Jugend, auf die Frauen, die Gesellschaft. Ich bin mir sicher, dass man nicht mit Waffen gegen diese Strömung gewinnen kann, sondern einzig und allein mit Kultur.

STANDARD: In einem Interview sagten Sie, es reiche aus, ein Buch zu lesen, damit ein Mensch zum Fanatiker wird. Doch man muss viel lesen, um frei zu werden.

Daoud: Mit das Erste, was die Islamisten machen, sobald sie die Macht übernommen haben, ist es, Bücher zu verbrennen - eben weil sie sehr genau wissen, was ihnen gefährlich werden kann. Darum greifen sie auch Intellektuelle an und töten sie. Das ist der Grund, warum sie nicht Armeekasernen attackieren, sondern Universitäten - weil sie vor ihnen Angst haben.

STANDARD: Wie steht es um die Pressefreiheit in Algerien?

Daoud: Es ist augenblicklich wieder sehr schwer. Denn zum wirtschaftlichen Druck und dem politischen ist nun ein starker religiöser hinzugekommen, eine Seite, die die Angst schürt und Zensur betreibt. Oft sieht man davon ab, religiöse Themen aufzugreifen. Man übt Selbstzensur, weil man die Reaktion fürchtet. Aber freilich gibt es auch finanziellen Druck und Zensurzwänge, die durch wirtschaftlich mächtige Konzerne ausgeübt werden. Das kannten wir bislang nicht. Ich finde, Algerien gleicht im Augenblick Russland unter Boris Jelzin. Die Zentralregierung ist schwach, aber es gibt eine Vielzahl von Geschäftsmännern, die viel Macht übernehmen konnten.

STANDARD: Glauben Sie, es könnte nach dem Ende der Ära unter Langzeitpräsident Bouteflika ein neuerliches Aufflammen des Arabischen Frühlings in Algerien geben?

Daoud: Wir könnten eine friedliche Übergangszeit erleben, doch diese müsste rasch kommen. Die Strukturen sind sehr schwach. Es gibt das Risiko, in die Gewalt abzudriften. Aber zugleich existiert nach wie vor das Trauma des Bürgerkriegs. Rund um Bouteflika existiert aktuell auch kein Plan für die Zeit nach seiner Präsidentschaft. Es gibt so gut wie keine Opposition. Aus diesem Grund lehnt sich das Volk auch nicht auf.

STANDARD: Welche Autoren haben Sie, abseits von Albert Camus, stark beeinflusst?

Daoud: Vor allem in meiner Jugend hat mich Camus stark geprägt. Marguerite Yourcenar lese ich sehr gerne. Arthur Miller habe ich in meinen 20ern und 30ern sehr gemocht. Und sehr viele Literaten aus Zentral- und Osteuropa, etwa Milan Kundera.

STANDARD: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, "Meursault. Contre-enquête" (Deutsch: "Gegenentwurf") zu schreiben? Sie erzählen aus der Sicht des Bruders jener Figur, die von Meursault in Camus' "Der Fremde" erschossen wird.

Daoud: Wie Sie sicherlich wissen, bin ich bei der Tageszeitung Quotidien d'Oran Kolumnist. Man muss jeden Tag ein Thema beisteuern. In einem Treffen mit einem französischen Kollegen sprach er "den Schwarzen" an. Und ich habe mir dann gedacht, daraus mache ich eine Kolumne. Und es wurde mehr daraus.

STANDARD: Kann man sich in der gegenwärtigen Welt einzig und allein mit der Rolle des Schriftstellers zufriedengeben? Oder muss man wie Camus auch Journalist sein, um die Politik zu kritisieren?

Daoud: Nur Schriftsteller zu sein ist sehr schwer. Und ich glaube, es ist vor allem in der arabischen Welt aktuell unmöglich, sich nicht den Themen der Politik oder der Religion zu widmen. Man muss sich als Autor engagieren. Es ist eine Frage auf Leben und Tod. Ich weiß nicht, ob es in Europa aktuell Schriftsteller gibt, die sich wie wir den großen Fragen widmen und dabei gezwungen sind, die Last schwerer Bedrohungen zu tragen. In unseren Ländern ist es sehr schwer, ein normales, unbehelligtes Leben als Schriftsteller zu führen, das geht nicht. Vielleicht wird es irgendwann wieder möglich sein.

STANDARD: Woran arbeiten Sie aktuell?

Daoud: Aktuell arbeite ich am Drehbuch für den Film, der aus Meursault. Contre-enquête gemacht wird. (Jan Marot, DER STANDARD, 9.4.2015)