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Das Starterfeld auf der Reichsbrücke im Vorjahr.

Foto: apa/pfarrhofer

Jetzt ist es zu spät. Nicht nur, um zu beginnen, sondern auch, um zu trainieren. Zumindest dann, wenn Sie beim Vienna City Marathon am Sonntag, also am 12. April, irgendeine Distanz laufen wollen, die für Sie jenseits des normalen Alltagspensums liegt. Und eigentlich auch, falls Sie eine Woche später (also am 19.4.) in Linz an den Start gehen. Oder bei einem der zahlreichen anderen längeren Läufe, die grad wie Frühlingsknospen aus der und in die Landschaft schießen: Wer da jetzt draufkommt, kann – und sollte – es bleiben lassen.

Zumindest heuer. Diesen Frühling. Und sich ein paar schöne Ziele im Herbst setzen. Denn genau das ist es, was den schönen Satz, den ich das erste Mal vom Leistunsgdiagnostiker und Hakoah-Präsidenten Paul Haber um die Ohren geschnalzt bekam, so wahr macht: "Ein Marathon ist das Ungesündeste, das man seinem Körper antun kann – aber das Training dafür das Gesündeste."

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Foto: reuters/heinz-Peter Bader

Weil: Was bis jetzt an Ausdauer und Kraft nicht antrainiert wurde, kommt nicht mehr. Im Gegenteil: Wer in den letzten paar Tagen im Training zu viel will, der oder die verbrennt mit Sicherheit Power, die eigentlich am großen Tag abrufbar sein sollte. "Sie können eigentlich gar nicht zu wenig trainieren", beschreibt Wilhelm Lilge diese letzte Phase. Und so wie der einstige Lauf-Nationaltrainer und streitbare Anti-Doping-Aktivist sieht das auch meine Trainerin: "Auf die Form warten" nennt Sandrina Illes dieses Wenig-bis-kaum-Laufen in den letzten Tagen. Dazwischenkommen kann immer noch etwas. Und zwar in der Regel etwas, woran man am allerwenigsten denkt.

Ein paar Fehler lassen sich aber vermeiden. Oder zumindest eindämmen. Und um da zum einen ein bisserl zu helfen, hat Lilge eine "kleine" Per-Marathon-Checkliste zusammengestellt. Passender- und logischerweise mit 42,195 nützlichen Tipps. Und ich bedanke mich dafür, dass ich sie hier & heute ins Netz stellen darf.

Hier also: Lilges Liste

42,195 TIPPS für 42,195 KILOMETER

  1. Die letzte Woche vor dem Marathon können Sie eigentlich gar nicht zu wenig trainieren. Jetzt können Sie nichts mehr nachholen. Am vorletzten Tag machen Sie einen kompletten Ruhetag, und auch die anderen Einheiten in der letzten Woche sollten keine Belastungen darstellen. Für den Marathon selbst müssen alle physischen und psychischen Batterien voll aufgeladen sein.

  2. Sorgen Sie für ein entspanntes Umfeld an den Tagen vor dem Start. Meiden Sie im Vorfeld Personen, die ein negatives Umfeld schaffen (zum Beispiel Verwandte, die Ihren Sport als Unsinn oder spätpubertäre Erscheinung betrachten).

  3. Starten Sie beim Marathon nur, wenn Sie absolut gesund sind. Die Extrembelastung eines Marathons kann bei einem vorliegenden Infekt fatale Folgen haben. Auch mit einer noch nicht ganz ausgeheilten Verletzung sollten Sie nicht an den Start gehen. Zumindest im Unterbewusstsein lähmt Sie die Tatsache, dass Sie nicht ganz fit sind.

  4. Wenn Sie älter als 40 Jahre sind (Frauen älter als 50 Jahre) oder Risikofaktoren vorliegen (Bluthochdruck, Rauchen, Diabetes, erhöhte Blutfettwerte, erbliche Belastung et cetera), sollten Sie zumindest einmal innerhalb der letzten sechs Monate vor dem Marathon eine sportmedizinische Belastungsuntersuchung (mit Belastungs-EKG) durchführen lassen. Das gilt natürlich auch dann, wenn Sie innerhalb der letzten Wochen vor dem Marathon mit einer fiebrigen Erkältung zu kämpfen hatten. Ihre Gesundheit ist das Wichtigste!

  5. An den Tagen vor dem Wettkampf vermeiden Sie ausgiebige Sightseeing-Touren und stehen Sie nicht zu lange auf der Marathonmesse herum. Zweistündige Einkaufstouren ermüden den Marathonläufer mehr als ein einstündiger Dauerlauf. Auch der Trubel und das Herumstehen auf einer "Pasta-Party" ist gewiss nicht leistungsfördernd. Der Läufer läuft, sitzt oder liegt, alles andere ist von Übel!

  6. Ruhe und Entspannung zwei Tage vor dem Wettkampf sind wichtig, der Schlaf in der vorletzten Nacht am wichtigsten. Geraten Sie nicht in Panik, falls Sie in der letzten Nacht kaum ein Auge zumachen. Unter diesen Voraussetzungen wurden schon viele Weltklasseleistungen erzielt.

  7. Nützen Sie die durch das reduzierte Training der letzten Tage gewonnene Zeit vor allem zur mentalen Vorbereitung. Laufen Sie in Gedanken die einzelnen Abschnitte der Strecke ab.

  8. Freuen Sie sich auf den Wettkampf. Sie haben sich monatelang vorbereitet. Sie sind befreit und bereit. Jetzt können Sie vom Sparbuch abheben, auf das Sie lange Zeit eingezahlt haben.

  9. Lassen Sie sich durch "schlechte" Wetterprognosen nicht beirren. Nehmen Sie aber bei Ihren Zielsetzungen sehr wohl darauf Rücksicht.

  10. Am Tag des Wettkampfs stehen Sie circa drei bis vier Stunden vor dem Start auf, essen zwei bis drei Stunden vor dem Start ein leichtverdauliches Frühstück und trinken Sie jetzt noch ausreichend. Wie auch bereits ein bis zwei Tage vor dem Rennen essen Sie nun eher weniger Vollkornprodukte und Müsli aufgrund des hohen Ballaststoffanteils. Wenn Sie Kaffee gewöhnt sind, können Sie geringe Mengen auch am Wettkampftag trinken. Größere Mengen entziehen dem Körper Wasser, und das kann vor allem bei warmen Temperaturen stark leistungsmindernd wirken.

  11. Überprüfen Sie rechtzeitig Ihre Ausrüstung (Schuhbänder, Stoppuhr, Batterien des Pulsmessgerätes et cetera). Planen Sie Bekleidungsvarianten für alle möglichen Wetterbedingungen.

  12. Wenn Sie wahrscheinlich über drei Stunden laufen werden oder über siebzig Kilogramm wiegen, dann greifen Sie lieber nicht zu den "ultraleichten" Wettkampfschuhen, sondern geben Sie einem bewährten, stabilen Trainingsschuh den Vorzug. Die theoretische Zeitersparnis von einigen Sekunden durch die leichten Wettkampfschuhe geht durch die Probleme am Bewegungsapparat meist wieder verloren.


  13. Verwenden Sie beim Marathon generell kein neues Material. Die Zeit für Materialtests ist nun vorbei. Die Schuhe sollten bereits bei längeren Trainingsläufen eingelaufen werden, und auch das Laufdress frisch vom Regal kann unangenehme Überraschungen bereiten. Die Laufsocken sollten seit der letzten Wäsche bereits einmal getragen worden sein.

  14. Etwaige Scheuerstellen (Innenseite der Oberschenkel etwa) mit Vaseline eincremen.

  15. Brustwarzen mit Leukoplast abkleben (gilt vor allem für Männer!).

  16. Füße leicht mit Puder bestreuen, bevor Sie die Laufsocken anziehen. Dies hilft gegen Blasen, sollte jedoch auch vorher im Training ausprobiert werden, damit Sie kein ungewohntes Gefühl im Laufschuh haben.

  17. Schuhe nicht zu eng binden. Vor allem bei hohen Temperaturen schwellen die Füße beim Laufen an. Bei zu enger Schnürung kann die Blutversorgung eingeschränkt werden.

  18. Binden Sie auch den Chip nicht zu eng an die Schuhbänder, da er sonst Druckstellen verursachen kann.

  19. Bedenken Sie, dass Sie trotz Chip-Zeitmessung vor dem Start recht lange in Ihrer Startbox stehen werden. Falls es in der Früh noch recht kühl ist, nehmen Sie einen alten Pullover mit, den Sie dann kurz vor oder nach dem Start unauffällig "entsorgen". Die Startnummer (mit Sponsoraufdrucken) darf aber nicht verkleinert werden und muss deutlich sichtbar sein, andernfalls können Sie disqualifiziert werden.

  20. Planen Sie die Anreise zum Startbereich genau, wobei Sie großzügige Reservezeiten berücksichtigen sollten. Zahlreiche Absperrungen, Umleitungen und Parkplatznot können die Zufahrt mit dem Pkw recht stressig werden lassen. Der Start beim VCM ist perfekt mit der U-Bahn zu erreichen.

  21. Experimentieren Sie vor dem Marathon nicht mit irgendwelchen extremen Diätformen (zum Beispiel Saltin-Diät). Machen Sie das nur, wenn Sie es mit Erfolg bereits ausprobiert haben. Am sichersten: sieben bis vier Tage vor dem Marathon normale, vollwertige Mischkost. An den Tagen 3-1 vor dem Marathon ernähren Sie sich bewusst kohlenhydratreich und fettarm (Kartoffeln, Reis, Nudeln ohne fette Sauce et cetera). Durch diese Ernährungsform in Kombination mit dem stark reduzierten Training an den letzten Tagen werden Sie mit optimal gefüllten Kohlenhydratspeichern an den Start gehen.

  22. Überessen Sie sich nicht an den Tagen vor dem Marathon. Sie können sich energiemäßig praktisch keine Reserven schaffen. Durch das verminderte Training verbrauchen Sie auch weniger Energie.

  23. Gerade in der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung sollten Sie mehrere kleine Mahlzeiten anstelle von zwei großen pro Tag zu sich nehmen.

  24. Am Tag vor dem Marathon sollten Sie immer Ihre Trinkflasche griffbereit haben (und Sie auch verwenden).

  25. Auch wenn Sie die ersten Kilometer vor Kraft und Energie strotzen und Sie das Adrenalin beflügelt, versuchen Sie möglichst ökonomisch zu laufen und Ihren Rhythmus zu finden. Gleiten statt hüpfen! Stellen Sie sich vor, Ihre Beine sind Räder, die eine kostbare Fracht, Ihren Oberkörper, transportieren sollen.

  26. Beginnen Sie eher zu langsam als zu schnell. Bedenken Sie, dass fast alle um Sie herum zu schnell beginnen. Ein paar Sekunden zu schnell am Anfang rächt sich zu einem späteren Zeitpunkt mitunter in Form vieler Minuten. Das Herauslaufen eines Zeitguthabens funktioniert nicht. Fast alle Weltrekorde im Langstreckenlauf wurden mit einer schnelleren zweiten Hälfte erzielt.

    Wenn Sie in der zweiten Hälfte mehrere andere Teilnehmer überholen können, anstelle von ihnen überholt zu werden, beflügelt das zusätzlich. Versuchen Sie nicht, die trotz Chip-Zeitmessung entstehende Startverzögerung auf dem ersten Kilometer mit Slalomsprints quer durch den Läuferpulk wettzumachen.

  27. Wenn Sie erst trinken, wenn der Durst kommt, ist es zu spät. Nützen Sie die Verpflegungsstellen von Beginn an, falls Sie keine Privatverpflegung (die nur im Bereich der Labestationen gereicht werden darf!) organisieren können.

  28. Bei Hitze: mit dem Schwamm vor allem Kopf, Nacken, Achselhöhlen und Oberschenkel kühlen (in dieser Reihenfolge!)

  29. Die Aufnahme fester Nahrung ist für Läufe unter drei Stunden nicht sinnvoll. Essen Sie nicht alles Angebotene unter dem Motto "Das üppige Startgeld muss wieder hereinkommen".

  30. Stark gesüßte Getränke (Cola, Energy Drinks) oder gar Traubenzucker nehmen Sie nicht vor der letzten halben Stunde vor dem Ziel. Trinken Sie unterwegs aber nicht nur Leitungswasser (Gefahr von Salzmangel), sondern am besten abwechselnd Leitungswasser und die angebotenen Sportgetränke. Versuchen Sie zumindest alle fünf Kilometer circa 0,2 Liter zu trinken.

  31. Zwischen einer Stunde und fünf Minuten vor dem Start sollten Sie nichts trinken, sonst kommen Sie in der Startbox in peinliche Verlegenheit. Drei bis fünf Minuten vor dem Start ist die Aufnahme von ca. 200 Milliliter Ihres Sportgetränks allerdings empfehlenswert. Verwenden Sie dafür eine Wegwerftrinkflasche aus Plastik.

  32. Natürlich ist es von Vorteil, wenn Sie Privatverpflegung an der Strecke mithilfe von Bekannten organisieren können. Dann können Sie den Staus an den ersten Verpflegungsstellen entgehen. Auf diese Helfer sollten Sie sich aber unbedingt verlassen können, sonst ist der Frust unterwegs sehr groß. Im Idealfall sollten diese unmittelbar vor den offiziellen Labestationen auf Sie warten und keine anderen Läufer behindern.

  33. Das Leben geht nach dem Zieleinlauf weiter. Planen Sie deshalb, wie Sie in diesem Zustand am besten zum Startbereich zurückkommen, falls Sie dort Ihr Auto abgestellt haben.

  34. Im Zielbereich herrscht wegen der Menschenmassen ein ziemliches Chaos. Wenn Sie dort Ihre Angehörigen finden wollen, sollten Sie vorher einen exakten Treffpunkt vereinbaren (beim VCM gibt es große Buchstaben als Treffpunkte in Zielnähe).

  35. Legen Sie im Vorhinein drei unterschiedliche Ziele fest: ein Normalziel, ein Optimalziel (wenn ein Supertag herrscht und alles passt) und ein Minimalziel. Wenn Sie nur ein bestimmtes Ziel festlegen, kann der Frust unterwegs schon bei widrigen äußeren Bedingungen recht groß sein. Während des Marathons können Sie kaum rationale Entscheidungen treffen. Ihr "Alternativprogramm" muss fertig abrufbereit zur Verfügung stehen.

  36. Wenn ein "Hänger" kommt: die Schmerzen des Körpers annehmen. Fast alle Marathonläufer haben irgendwann ein oder mehrere Tiefs. Diese Situationen zu überwinden ist ein wesentlicher Bestandteil des Marathonlaufs.

  37. Es ist in 99,9% der Fälle besser, langsamer als geplant ins Ziel zu kommen als aufzugeben. Am Tag nach dem Marathon denken Sie sicher anders über eine schwache Zeit als unterwegs. Die Enttäuschung über eine Aufgabe ist im Nachhinein eigentlich immer größer als über eine (relativ) langsame Zeit. Wer einmal einen Marathon aufgibt, setzt die Hemmschwelle fürs Aussteigen beim nächsten Mal weit herunter, und es wird dann immer schwieriger. Ein tatsächlicher Grund fürs Aufgeben ist eine Verletzung beim Rennen.

  38. Konzentrieren Sie sich darauf, Ihr Bestes zu geben, und nicht darauf, was andere wohl leisten können.

  39. Wenn der Gedanke kommt: "Ich kann nicht", so bekämpfen Sie den Gedanken sofort mit dem Gedanken: "Ich kann!" ("Feuer mit Wasser bekämpfen").

  40. Erschöpfung? Konzentrieren Sie sich darauf, wie weit Sie schon sind, und denken Sie immer nur an den nächsten Kilometer. Auch wenn es absurd klingt: Versuchen Sie es mit Lachen oder Singen. Das hilft entspannen (und macht außerdem die Gegner nervös). Sagen Sie sich (geistig) ständig positive Sätze vor.

  41. Jeder hat Schmerzen beim Marathon. Machen Sie die Erschöpfung zu Ihrem Verbündeten auf Ihrer Reise. Sie ist da, weil Sie sich so ausgezeichnet Mühe geben. Verwenden Sie Visualisierungen, bei denen verspannte Muskeln wie Eisberge dahinschmelzen. Stellen Sie sich vor, wie ihre Muskeln ganz locker an Ihren Knochen hängen. Verhandeln Sie mit Ihrem Körper.

  42. Belohnen Sie sich gebührend, wenn Sie Ihr Ziel erreichen. Legen Sie diese Belohnung vorher fest.

42,195. Kämpfen Sie bis zum Schluss um jede Sekunde – vielleicht kommt die Situation nicht so schnell wieder, wo Sie diese Zeit verbessern können. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 8.4.2015)