Wenn die eigenen Vorur teile schneller laufen, als die Informationsverarbeitung brauchen würde: Dann passiert es. Die Schlagzeile wird gelesen, der Text überflogen, und mitten im schwungvollen Überfliegen stellt sich der Leser ein mentales Bein. Ein Triggerwort genügt. Und schon laufen die Gedanken off the tracks, der Rest des Textes, die Relevanz und der Bezug des Themas: alles dahin.

Im Orkus des emotionalen Aufruhrs eingesogen und niemals wieder gesehen wie der zweite Socken eines geliebten Sockenpaares in der Waschmaschine. Irgendwo da draußen gibt es ein Parallel universum, in dem all diese Socken mit nicht fertiggelesenen, aber eifrig kommentierten Texten Walzer tanzen, weit über die Endlichkeit unserer langweiligen Realität hinaus. Wo eindeutige Aus sage des Ganzen zugunsten einer Momentaufnahme des Ausschnitts ignoriert wird, wird anschließende Diskussion unbrauchbar. In der öffentlichen Diskussion um Muttersprache und Spracherwerb geschieht das besonders gerne. Wirft einer die Bedeutung von Mehrsprachigkeit und ihren – wie der Name schon sagt – Mehrwert in den Raum, kontert der andere mit Empörung über mangelhafte Beherrschung des Deutschen. Das Nichtbeherrschen des Deutschen und das Beherrschen der Muttersprache stellt jedoch einen lupenreinen Fall von Einsprachigkeit dar, lupenreiner noch als Schröders Empfehlung für Putin, bevor die Gasprom nach Schröder rief.

Der zweite Punkt, der augenblicklich in die Volksarena geworfen wird, ist die speediger als speedig zugeordnete Nationalität: Selbstverständlich handelt es sich bei den zu Kritisierenden um Türken. Und offensichtlich immer nur um Türken. In Österreich gibt es offenbar keine weiteren Muttersprachler, die Schwierigkeiten dabei entwickeln, das Deutsche zu erlernen. Keine Amerikaner, Mexikaner, Chinesen und keine Ange- hörigen des ehemaligen Ostblocks.

Manchmal wünscht man sich, die Vorurteile würden mit den verschwundenen Socken Platz tauschen. (Julya Rabinowich, DER STANDARD, 28./29.3.2015)