Die USA sind ja das Land, das die shopping mall erfunden hat. Erst in jenem Prozess, der die ganze Welt in eine Art von New Jersey verwandeln wollte und sollte, breitete sich das Konzept Einkaufswelt nach Europa und damit auch zu uns aus. Noch heute aber ist für ein Studium der Typologie der Mall ein Besuch in den USA unerlässlich.
Nur dort nämlich kann man etwa die Unterschiede zwischen einer Nobelmall, einer Mall für die Mittelschicht und einer für die gesellschaftlichen Verlierer studieren, nicht zu vergessen die Unzahl der Mischtypen mit ihrem genau auf die jeweilige Klientel abgestimmten Angebot - insbesondere aber den Typus der sterbenden Mall, der uns hier in Sonderheit interessieren soll.
Die sterbende Mall? Nun, es beginnt mit der Schließung einzelner Geschäfte. Sie werden mit Rollläden verrammelt oder einfach im Zustand der letzten Räumung belassen, da und dort steht noch verstaubtes Werbedisplay herum, Dunkelheit beginnt sich rund um diese Läden auszubreiten, eine Dunkelheit, die in diesem Stadium, könnte man sagen, gleichsam von innen kommt.
Immer mehr Läden schließen. In einzelnen Gängen der Mall sind die Lampen nun schon tatsächlich gelöscht. Zuletzt bleiben meist Footlocker-Geschäfte und die Läden der Berman-Kette mit ihren Billigtextilien übrig. Sie sind die Letzten. In einem solchen Laden habe ich mir einmal einen dicken Wintermantel gekauft, made in Poland übrigens. Wie der nach Ohio gekommen war?
Im letzten Stadium einer Mall ziehen des Öfteren Fairylands für Kinder in die leerstehenden Gelasse: Dort gibt es dann Rutschbahnen aus Plastik oder auch diese Netzkäfige voll bunter Bälle, in denen man wühlen und sich eingraben kann. Manchmal dreht sich gar ein Ringelspiel lustig vorbei.
Bis ganz zuletzt funktioniert in jeder Mall der Reinigungsdienst und natürlich die Security. Penner oder Bettler findet man selbst in einer sterbenden Mall kaum.
Seltsam, dass mich gerade in europäischen Supermärkten mit ihren in ewigem Preiskampf zur Konkurrenz und also im Dumpingzustand befindlichen Angeboten, zwischen diesen von gekauft sein wollenden Waren überquellenden Tischen, Ständern und Truhen unausweichlich Bilder und Erinnerungen an sterbende oder zumindest vom herannahenden Tod schon deutlich gezeichnete Malls überfallen.
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Kommt mir einer daher und sagt: "Europa hat keine Zukunft!" - der oder die muss, und das ist auch wiederum seltsam, mit schärfstem Widerspruch von mir rechnen. Obwohl mir klar ist, dass ich kaum positive Argumente für meine Überzeugung vorzubringen habe, tue ich alles, um die negativen meines Gegenübers zu entkräften.
Mir ist klar, dass der Spielraum Europas nach außen eng begrenzt ist, dass Reformen, was das Innere angeht, derzeit kaum zu erwarten sind. ( Reformen sind ja seit langem nur möglich in der Form, wie wir etwa jetzt den Übergang zur Transferunion erleben - als unausweichliche Konsequenz von Lagen, in die man schlimmerweise geraten ist, in die man sich allmählich hineinmanövriert hat.) Um einen Ausdruck aus dem Fußball- oder Eishockeyjargon zu bemühen: Alles, was Europa derzeit tun kann und auch tut, ist, auf Zeit zu spielen, und das meint, einfach weiterzumachen, zu versuchen, die Partie offenzuhalten und auf gutes Glück, auf eine günstige Wendung der Umstände zu warten und zu hoffen.
Weshalb verteidige ich also Europa, die europäische Idee? Weil es die einzige Hoffnung ist? Weil ich an Utopien glaube? Weil ich mich, in kleinlichster Lesart, als Österreicher jedenfalls vom europäischen Schicksal mitbetroffen fühle? (Letzteres wäre ja bereits ein Fortschritt in Richtung Integration: Als wir der Union beitraten, war eine starke Minderheit der Ansicht, es wäre besser, außen vor zu bleiben. Manche fantasierten von einem Bund mit Ungarn etc. Ich freilich nicht, im Gegenteil, ich machte mich für den Beitritt stark, was mich in Gegensatz zu den meisten Intellektuellen hierzulande brachte.)
Ja, ich glaube an die Macht der Utopie, an die Attraktionskräfte von Zielbildern, die man einer verbesserungswürdigen Gegenwart gegenüberstellt. Ich bin ein Vertreter des Prinzips Hoffnung, könnte man sagen, vielleicht aber bloß einer aus Pragmatik und jedenfalls behaftet mit dem ungut schwärenden Verdacht, die Hoffnung könnte als psychische Grundkonstellation, nun ja, mangels Fundierung in einem wie immer konzipierten Außen, Oben oder Unten doch nur eine besonders perfide Anrainerin des Selbstbetrugs sein.
Es ist der übliche Salat. Natürlich mache ich mich da ein wenig schlechter, als ich tatsächlich aufgestellt bin. Ich habe - wie viele oder die meisten übrigens - zuzeiten ein glühendes Herz. Und das, dieser Umstand allein, macht doch auch Hoffnung, nicht wahr?
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Vor gut zwanzig Jahren schrieb ich: "Wahrscheinlich ist, dass die Staaten der europäischen Gemeinschaft eher durch katastrophenartige Entwicklungen, die alle bedrohen, zueinanderfinden werden: etwa durch Massenarbeitslosigkeit sich gezwungen sehen werden, ihre diesbezügliche Politik zusammenzufassen. Das würde dann Bereiche, die mit der Arbeit direkt oder indirekt zusammenhängen, miterfassen und mitreißen (nach dem Prinzip, dass man aus einer Schüssel voll Teig oder Lehm keinen einzelnen, fest umrissenen Brocken herausholen kann). Das Rinnende, Vernetzte und oft auf paradoxe Weise Zusammenhängende und Korrespondierende der Verhältnisse ist unsere Chance.
Eine durch und durch friedliche und ausgeglichene Zukunft würde keinen Wandel heraufführen, alles bliebe, wie es ist: eine wenig attraktive Aussicht.
(Kommentar: Die Krise wird hier als Chance verkauft.)
Natürlich - die Außenwelt! Die Kinderstube des Leviathan ist die Weltöffentlichkeit: Der Selbstbehauptungswille und vielleicht oder, wahrscheinlich, der Machttrieb wird die Europäer zu Veränderungen und speziell zur Vereinheitlichung zwingen.
Bosnien hat für Europa mehr getan als tausend Konferenzen.
(Einrede: Dürfen wir heute anstelle von Bosnien Ukraine sagen?)
Ausgangspunkt ist das lauwarme, machiavellistische Miteinander von Staaten, die einander zwar nicht mehr bösartig belauern, deren zweiter Gedanke aber, hinter dem großartig propagierten Willen zum Miteinander, doch der Argwohn ist. Der Wunsch, sich nicht übervorteilen zu lassen, trägt im jetzigen Stadium mindestens ebenso viel zur Bewegung bei wie die Absicht zu gemeinsamem Handeln."
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Wie man sieht, war und ist es mir nicht gegeben, mich an der Vorstellung von einem Europa der Regionen zu berauschen. Selten ist so viel dummes Zeug in einer klar am Tag liegenden Sache vorgetragen worden: So überholt das Konzept Nationalstaat auch sein mag, und es ist, Erbe aus dem 19. Jahrhundert, tatsächlich überholt, eine wie immer konzipierte regionale Organisation Europas ist derzeit weder machbar noch wünschenswert. Denkt man etwa an die Fälle Schottland oder Katalonien, ist doch deutlich zu erkennen, dass kein nach vorne gerichtetes Denken dort Bewegung schafft, sondern übelste Kleinstaaterei. Belgien und sein Streit zwischen Flamen und Walonen gehören ebenfalls hierher.
Die meisten der sogenannten Regionen Europas zeichnen sich einfach dadurch aus, dass sie gerade zu ihren unmittelbaren Nachbarn in einem gespannten Verhältnis stehen - man prüfe das, etwa am Beispiel Österreich, nur schnell einmal nach! Der herbeiargumentierte Übergang der Macht auf die Regionen würde zudem den Typus Landeskaiser à la Franz Josef Strauß selig oder gar Haider nach vorn bringen - kann das denn im Ernst ein Lichtblick für Europa sein?
Mir kommt vor, viel eher wird die langsame Angleichung und Einschmelzung der Institutionen zu einer echten Vereinigung Europas und damit zu einer Überwindung der Nationalstaaten führen. Also langsame, beinah unmerklich vor sich gehende Implosion anstelle von großartig hinausposaunten Reformschritten. Eine Vereinheitlichung des Curriculums oder der Berechnungsart gewisser Steuern bringt mehr als lauthals proklamierte Vereinigungspläne. Außerdem: Es ist der gewiesene Weg allein schon deshalb, weil ein anderer derzeit gar nicht gangbar, das meint, politisch durchsetzbar wäre. Die Zeit der großen Vertragswerke ist für Europa aufs Erste vorbei.
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Vor gut zwanzig Jahren schrieb ich: "In einem großen Körper werden Reaktionen und Reflexe der Außenwelt nur sehr gedämpft wahrgenommen. Ich möchte die Behauptung aufstellen, dass das jetzige Europa viel sensibler auf die Außenwelt reagiert - mit den Fühlern seiner diversen und zahlreichen Außenämter, Zeitungen, Fernsehstationen etc. -, als es das große, wirklich geeinte Europa tun wird.
Eine der Haupterkenntnisse eines jeden längeren USA-Aufenthaltes ist doch das rasch sich einstellende Gefühl der Einlullung, hervorgerufen allein von der großen, durchgängigen Landmasse mit ihren immer gleichen sozialen und institutionellen Standards: In irgendeinem Kaff in Indiana oder einer Mainstreet von North Dakota oder meinetwegen Arizona bei Burgerking sich einen Milchshake zu gönnen oder bei Walmart nach einem billigen Paar Schuhe zu stöbern: Es ist das embryonale Erlebnis schlechthin!"
Es ist ja leicht einzusehen, dass Europa gerade in der Hinsicht mittlerweile stark aufgeholt hat, in Hinsicht auf Einlullung nämlich - und das ohne großen Vereinigungsfortschritt. Tatsächlich hat sich unter der bunten Patchwork-Decke der Nationalstaaterei der Markt mit seinen uniformen, überall gleich wirkenden Gesetzen und sozialen Formen grundlegend etabliert. So fraktioniert Europa im politischen Sinn immer noch ist oder sein mag, so einheitlich ist es, ja, wie sollen wir nun sagen, im ökonomischen Sinn geworden? Oder eher doch in einem sozioökonomischen Sinn, und das meint, in der Art, wie Welt sich organisiert, darbietet und benützbar ist.
Im sozioökonomischen Feld vermischen sich zwei Prozesse: Der eine heißt schlicht und ergreifend Marktvereinheitlichung oder -harmonisierung, wie sie sich etwa im Zahlungsverkehr, in der Warenstandardisierung, in Werbung, Vertriebsformen etc. darstellen. Als Konsument weiß ich in Lissabon, in Helsinki oder Zagreb genau, was ich zu tun habe, nämlich immer dasselbe, will ich mir gewisse Konsumfreuden verschaffen.
Der zweite Prozess ist älter und grundlegender, er datiert vom Aufstieg der bürgerlichen Welt her und verknüpft die Befreiung des Einzelnen, die immer größere Möglichkeit zur Individualisierung unter dem Stichwort Freiheit mit gleichzeitiger Entfremdung dieser Individualitäten von ihrer je eigenen Besonderheit.
Dieses auf den ersten Blick schwer verständliche Paradox, es lässt sich in jeder Einkaufsstraße, Fußgängerzonen bevorzugt, und natürlich in jeder shopping mall in aller Anschaulichkeit erleben und studieren: Die theoretische Möglichkeit, sein Leben so oder so zu gestalten, führt realiter im gesellschaftlichen Ist-Zustand zur Herausbildung zwar ideell trüber und diffuser, dafür aber über Arbeitsorganisation, Karrieremuster, Lohnschema, Medien, Werbung und Lifestyle, um nur einiges zu benennen, umso mächtigerer Strömungen, denen sich die wenigsten, wenn nicht überhaupt keiner entziehen können und kann.
Da schlendern sie die Gänge der Malls hinunter. Heute läuft das Geschäft wieder prima, Traum um Traum erfüllt sich da in schier unendlicher Kette, der Euro sitzt locker, der Euro rollt ... Nehmen wir jetzt erst einmal einen Cappuccino beim Italiener, oder sollen wir gleich ins Restaurant einfallen? Momentan sind Seafood-Wochen angesagt. Shrimps oder so? Aber auch sonst, mein Lieber, wird alles, alles, alles da sein. (Peter Rosei, Album, DER STANDARD, 28.3.2015)