Natürlich können Sie jetzt den schönen Satz mit den sauren Trauben strapazieren. Vermutlich haben Sie damit nicht einmal so unrecht. Schließlich ist es billig, dem VCM das Adjektiv "vemaledeit" voranzustellen, wenn man an und auf den 42 Kilometern durch Wien bisher nie das Ziel gesehen hat. Da zu sagen, dass man den Lauf nicht mag, klingt nicht nur nach einer Ausrede: Es ist eine.

Es nützt auch nichts, wenn ich jetzt sage: "Aber ich kann das erklären." Fakt ist, dass meine Vienna-City-Marathon-Bilanz das Protokoll einer perpetuierten Niederlage ist. Und der Umstand, dass just ein Punkt, den ich dem Veranstalter so gerne vorhalte, mich davor rettet, mich als totalen VCM-Loser zu outen (nämlich dass man sich für den vollen Marathon anmelden kann, aber nach der Hälfte aufhören darf: Dem VCM-Team besorgt das eine schöne 42-K-Starterzahl und ein fettes Körberlgeld, weil der Marathonstart mehr kostet als der Halbmarathon. Und ob sich wirklich bis zu ein Drittel der Marathonis erst unterwegs überlegt, doch nur den – rasch ausverkauften — Halbmarathon laufen zu wollen … ), macht mich nicht glaubwürdiger: Schimpfen und das, was man Etikettenschwindel nennt, selbst ausnutzen, macht nicht unbedingt einen schlanken Fuß.

VCM 2014
Foto: Thomas Rottenberg

Aber zu meiner Verteidigung: Ich versuche es immerhin weiter. Auch heuer. Obwohl es auch dieses Jahr eher unwahrscheinlich ist, dass ich die ganze Strecke schaffe. Von einer "PB" (also "Personal Best") träume ich nicht einmal mehr. Auch nicht von einer guten Zeit: Allein das Hakerl bei "VCM, Volldistanz" würde genügen. Und ist sehr, vermutlich zu hoch gesteckt.

Aber der Reihe nach. Mein erste Berührung mit dem Wiener Stadtmarathon fand statt, als ich Laufen für das Ödeste vom Öden hielt. Auch weil mir - schon in der Schule - eine Fußfehlstellung nach jedem Lauf, der länger als einmal quer übers Fußballfeld ging, Höllenschmerzen in beiden Schienbeinen verursachte. Zwei Minuten. Drei. Dann war Schluss. Bis mir - ich war Mitte 20 - ein WG-Kumpan und Physiotherapeut sagte, dass das so nicht weiter gehe. Er begann mich zu foltern.

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Vienna City Marathon 1997.
Foto: Reuters/halada

Damals kam der City-Marathon statt über Mariahilfer Straße über die Gumpendorfer Straße zurück ins Zentrum. Mein Marathontag begann deshalb mit Hubschraubergetöse über dem Haus. Wir sahen unten einen Trupp Afrikaner vorbei jagen, warfen die Kaffeemaschine an, setzten uns mit Tschick und Begleitung aufs Fensterbrett - und warteten: Eine dreiviertel Stunde nach den Afrikanern begann die Show. Da wankte, schnaufte, keuchte und quälte sich die Heerschar verschwitzter Normalo-Läufer vier Stockwerke tiefer vorbei. Traptraptraptrapp. Stundenlang. Was für ein Schauspiel.

"Du weißt, dass du das auch kannst?" fragte der Physio-Kumpel vom Nebenfenster. Ich schnippte meine Kippe von oben in den Läuferpulk (und schäme mich heute noch dafür). Dann tippte ich mir an die Stirn: Sport kannte ich damals nur aus dem Fernsehen. Vom Wegzappen.

"Nicht in diesem Leben. Wozu?" Der Physio-Mensch lachte: "Wart’s ab."

Leiden und Laufen

Irgendwann lief ich statt drei Minuten fünf. Dann acht. Dann zehn. Ich hielt bei zwei Packerln Zigaretten am Tag. Bei Nacht zählte ich nicht. Der Physio-Mensch quälte mich weiter. Als ich 30 Minuten schaffte, kamen die Atemnot und Husten plötzlich vor dem Schmerz im Bein. Hoppla: Dafür hatte ich keine Ausrede. Das war ich selbst. Der Physio-Mensch gab nicht nach. Ich hörte auf zu rauchen. Ich litt - und lief. Von Freude oder Leichtigkeit, von Flow, Endorphinen oder sonstigem Laufglück-Gebrabbel war keine Rede.

Im Jahr darauf saßen wir wieder auf den Fensterbrettern. Traptraptrapptrapp. Ich hielt mich am Kaffeehäferl fest. "Die haben einen festen Poscher." Der Physio-WG-Kumpel widersprach nicht: "Aber sie versuchen es. Du sitzt nur da - und maulst. Während da unten Leute mit Übergewicht und echten Problemen etwas tun, wovor du dich anscheißt." Ich zuckte mit den Schultern: Ich lief, um zu erleben, dass der Schmerz nicht kam. Weil ich spürte, wie mein Körper sich vom Gift befreite. Weil der Rhythmus und das Mantra meiner Schritte den Kopf frei schaufelte. Aber Spaß am Laufen? Nö. Freude an Bewegung an sich? Sicher nicht. Lust auf Wettkampf? Noch weniger.

Vienna City Marathon 2014.
Foto: Thomas Rottenberg

Der VCM aber blieb mir erhalten. Meine damalige Freundin wollte an der Wienzeile zuschauen. Nach der Führungsgruppe und den ersten Verfolgern schlenderten wir zur (mittlerweile) Mariahilfer Straße - und kamen fast zeitgleich mit den Führenden oben an. Frühstück beim Bortolotti. "Ich will das auch können", sagte meine Freundin. Ich bestellte Schinken-Käse-Toast. Mit extra Mayonnaise und Ketchup. "Ohne mich."

Im Jahr darauf lief sie mit. Eh "nur" Halbmarathon. Ich winkte ihr vom Bortolotti aus zu - aber sie schaute weg: Wir trugen schon das Präfix "Ex".

Ich lief weiter. Ohne Plan. Ohne Ziel. Ohne Ehrgeiz. Immer Solo. Ohne Uhr und Pulsmesser. Aber regelmäßig. Ein paar Jahre lang. Dann rief eines Spätfrühlingstages die Presseprecherin der TUI an. Man veranstalte auf Mallorca einen Marathon. Ob ich mitkommen wolle? Palma im Oktober sei schön. Und eine Geschichte. Ach ja: Ich dürfe mitlaufen. 10 Kilometer - oder den Halbmarathon. Oder gar den Ganzen? Alle Journalisten bekämen maßgeschneiderte Trainingspläne und Betreuung. Es gäbe auch Lauftreffs. Bliebe nur eins: Laufen.

Mallorca 2012
Foto: Thomas Rottenberg

Keine Ahnung, was mich ritt, mein Kreuz bei der 42 zu setzen. Aber das Training war der Hammer. (Anfangs) nicht spürbar anstrengender als das, was ich sonst lief - aber die Wirkung: Meine Fresse! Am 21. Oktober 2012 lief ich in Palma nicht nur meinen ersten Marathon, sondern auch meinen ersten Wettkampf. 3:36.

Ich hatte keine Ahnung, was das für eine Zeit ist: Auf einem hügeligen Stadtkurs mit angeblich fast 400 Höhenmetern, etlichen U-Turns in engen Gassen - und danach einer alles andere als optimalen Strecke auf einer stark befahrenen Straße gegen heftigen Wind. Zurück entlang der Küste über Dünen, während Sonne, Gischt und vom Wind hochgewehter Sand uns panierten.

Ich war mit 3:36 unzufrieden - und verstand nicht, wieso mir alle anderen, vor allem unser Coach Michael Buchleitner, gratulierten. Heute weiß ich es: Meine erste war meine beste Marathonzeit. Und das wird aller Voraussicht nach auch so bleiben.

Marathon 2012 in Mallorca.
Foto: Thomas Rottenberg

Was das mit dem VCM zu tun hat? Nix. Alles. Denn natürlich wollte ich vor der Haustüre auch die volle Distanz schaffen. Noch dazu, wo es heißt, dass Wien schnell sei. Keine Höhenmeter, kein Surfer-Wind und keine U-Turns, Sandsturm und Salzwasserspritzer. Außerdem weiß ich mittlerweile, was die 3:30-er-Grenze für Hobbyläufer bedeutet.

Nur: VCM ist im Frühjahr. Nach der Grippezeit. Und ich bin seit 20 Jahren und einer übergangenen Grippe ein Bioindikator dafür, dass der grippale Infekt in der Stadt ist: Mich nietet es verlässlich zehn Tage um - und je früher ich wieder ins Training einsteige, umso eher kommt der grippale Rückfall ein paar Wochen vor dem VCM.

Muskelriss & Grippe

Zusätzlich schaffe ich es dann zum Beispiel, eben weil ich ja grad krank war, mich beim VCM selbst vor Überanstrengung zu schützen, indem ich mich einem Freund für seinen ersten Marathon als Pacer für eine Vierstunden-Zeit andiene. Und weil das Laufen so leicht & locker geht, blödle ich, bis es mich so über einen Betonblock schmeißt. So, dass ich mit einem beim Laufen ziemlich unmöglichen Muskelriss ("Das ist eine Fußballverletzung. Das schafft beim Laufen kaum wer!" lobte der Arzt) ausscheide - und über Monate gar nicht laufen kann. Bei Selber-Schuld-Idiotien bin ich gut - und weil ich keine 20 mehr bin, bleibt ein Rest, der mich zur nächsten Verletzung begleitet. Oder führt: Im Vorjahr schaffte ich - hallo, grippaler Infekt! - gerade einmal mit Ach und Krach die von mir so gedisste VCM-Halbmarathon-Mogelversion.

Dann, im Herbst, bin ich mit einer latenten Achillessehnenentzündung (die laut Arzt irgendwie mit dem altersbedingten Nicht-ganz-Ausheilen der Betonblocksache zusammenhängen dürfte) in New York den Marathon gelaufen. Und seither versuche ich aus "akut" wieder "latent" oder "chronisch" zu machen. Und trotzdem Langstrecke zu trainieren.

New York Marathon 2014
Foto: Thomas rottenberg

Dass sich das nicht ganz ausgehen kann, sagen mir neben Trainerin und Physiotherapeut (nicht mehr der WG-Kumpel) auch Hausverstand, Trainingsergebnisse und die periodisch auftretenden Beschwerden. Außerdem war ich natürlich mit all jenen solidarisch, die in den letzten Wochen grippig herumeierten. Egal: Ich bin angemeldet. Und werde in 14 Tagen starten. Die Strategie lautet: "Schau ma mal." Dann werden wir sehen, was passiert. Im schlimmsten Fall starte ich auch 2016 wieder. Und 2017.

So lange, bis ich durchkomme - und das Wort "vermaledeit" noch das freundlichste Präfix ist, das mir zum Marathon, der mittlerweile wieder an meinem Schlafzimmerfenster vorbeiführt, einfällt. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 26.3.2015)

Und dann war da noch der VCM

New York Marathon: 42 Kilometer Gänsehaut

Laufen statt Saufen - Marathon auf Mallorca