Reinhard Kaiser-Mühlecker veröffentlicht nach fünf Romanen nun erstmals einen Band mit Erzählungen. Die Form ändert nichts an seinem Hauptthema: Menschen auf dem Land und ihre Schicksalsträchtigkeit.

Foto: Jürgen Bauer

Wien - Ein junger Mann vom Land, von prinzipiell ruhiger Gemütslage, der an einem Wendepunkt seines Lebens zur stillen, inwendigen Reflexion ausholt: In seinem neuen, insgesamt sechsten Buch Zeichnungen (S. Fischer) kehrt Reinhard Kaiser-Mühlecker zum Tonfall jenes Ich-Erzählers zurück, der die ersten Romane des 1982 in Kirchdorf an der Krems geborenen Autors geprägt hat.

Zwischen Lethargie und kontrolliertem Rückzug ins Private bewegen sich diese jungen Herrschaften, denen nicht selten etwas Greisenhaftes eignet: Ruhe, Behäbigkeit, Eigenbrötlerei, archaische Gepflogenheiten. Zeichnungen versammelt drei Erzählungen, in denen die Lebensumstände der jeweiligen Protagonisten auf unterschiedliche Weise erschüttert werden.

In Spuren ist es ein arbeitsloser Vermögensberater, der, nachdem ihn die Freundin verlassen hat, in der ländlichen Gegend umherschweift und sich insbesondere von einer Villa an dem seinem Zuhause gegenüberliegenden Seeufer angezogen fühlt. In Male wird ein junger Mann im Schlafzimmer eines alten Bauern alkoholgetränkter Ohrenzeuge von dessen ausgedehnter Lebensbeichte. Und vom neuen Lebensabschnitt eines sich als unehelich erkannt habenden Bauernsohnes erzählt die letzte Geschichte, die dem Band auch den Titel gibt: Zeichnungen.

In allen drei Erzählungen wirkt die gravitätische Kraft verwandtschaftlicher Bande: Neue Verwandte werden entdeckt oder alte als falsche entlarvt. Das löst Dynamiken aus und setzt die "Zeichnung" von neuen Lebenslinien in Gang, die Reinhard Kaiser-Mühlecker schon seit seinem gefeierten Debüt Der lange Gang über die Stationen (2008) zum Thema macht.

Unheimlich einfach

Immer sind es rural geprägte Menschen, deren Fortkommen der Autor in einer seltsam ruhigen und in ihrer Einfachheit unheimlich kräftigen Sprache begleitet. Die Sätze haben eine strenge, manchmal auch umständliche innere Ordnung, sie machen dabei jene Atempausen, die einem eine lange, bedächtig durchschrittene Strecke Weges abverlangt.

"Als junger Autor schreibt man eigentlich anders" - das war und ist der irritierte Grundtenor der bisherigen Kritik. Und tatsächlich ist Kaiser-Mühlecker auch in Zeichnungen dem Klang des Zeitgeistes spinnefeind. Es gibt in den Texten sehr wenige zwingende Anhaltspunkte für eine unmittelbare Gegenwart. Sollte einmal eine neumoderne Erfindung wie das Handy auftauchen, so ist dieses gewiss ausgeschaltet. Vielmehr verwendet der Autor Vokabeln wie Anrichte, Dorfwirtschaft, Zimmermann, Morgengrauen. Diese Koordinaten des Zeitlosen wirken durch die Wucht ihrer Kargheit, eine Wucht, die mit Verzögerung erst jeweils am Schluss ihre volle Wirkung entfaltet.

Diese aus den Familiengeschichten erwachsende Schicksalhaftigkeit des Daseins mag an manchen Stellen allzu gravitätisch und archaisch wirken, zu sehr herbeigezwungen, um in jeweils knapp einhundert Seiten aufgebaut und abgehandelt zu werden.

Klar, ehrlich, schön

Insbesondere schlängelt sich die dritte Erzählung, Zeichnungen, die von der beruflichen wie privaten Neuorientierung des Großbauernsohnes Steinau handelt, um verwunderlich ausgebaute Nebenschauplätze, die in Bezug auf den Gesamttext ein irritierendes Missverhältnis darstellen. Auch ist sie - gepaart mit dem Manufactum-Schreibstil Kaiser-Mühleckers (klar, ehrlich, schön) nicht ganz kitschfrei, was die Vorstellung vom vorgezeichneten Lebensweg betrifft.

Doch verblüfft das Buch mit seinen Behauptungen von Vorherbestimmung geradezu auf spirituelle Art. Es hinterfragt in Zeiten, die von zerfallenden Familien, von Individualismusgebot und virtuellen Freundschaften geprägt sind, das Motiv der sogenannten Blutsbande, die Verbundenheit durch leibliche Verwandtschaft. Das ist geradezu radikal. (Margarete Affenzeller, DER STANDARD, 24.3.2015)