Wie wäre es, wenn die österreichische die deutsche Bundesregierung einlüde, Gespräche über eine gemeinsame Begleichung der historischen Schuld gegenüber Griechenland zu führen? Nicht der Kriegsschuld, sondern der Finanzschuld, also der Schulden, wie man gemeinhin sagt.

Österreich spricht diese Einladung selbstverständlich nicht aus, weil irgendjemand unser Land dazu zwingen könnte, so zu handeln, sondern weil das Land, abweichend von der politischen Sprachregelung der unmittelbaren Nachkriegszeit, zur Einsicht gekommen ist, dass wir, also nicht die juristische Person Republik Österreich, sondern das Land Österreich, historische Schuld auf uns geladen haben. Seit 1988, seit dem unsere gesamte Bildungs- und Medienwelt durchziehenden Gedenken zum fünfzigsten Jahrestag des Anschlusses, sind unsere politischen Repräsentanten bereit, dies auch öffentlich zu verlautbaren, in der Knesset, vor der internationalen Presse, bei Gedenkfeiern in Auschwitz und Mauthausen. Selbst H.-C. Strache ist diesbezüglich kleinlaut geworden und bedient lieber das Thema Ausländer als das Thema historische Schuld. Dazu haben wir auch noch einen Bundespräsidenten, der, was die politische Korrektheit und Moralität seiner Reden betrifft, ein europäisches Vorzeigeexemplar ist und damit das Gegenteil vom späten Kurt Waldheim. Es hat sich also einiges getan im Land.

Wir haben uns inzwischen auch klarmachen lassen, dass man mit Sonntagspredigten allein nicht durchkommt und zum Beispiel auch einmal ein paar geklaute Museumsbilder abmontieren muss. Und dann war da noch diese blöde Rentengeschichte. Dass man jahrzehntelang zwar den KZ-Wächtern und Soldaten ihre Tötungszeit, den KZ-Häftlingen aber nicht die Zeit ihrer Todesängste anerkennen wollte, wurde schließlich doch noch als Schnitzer der kameradschaftlichen Nachkriegszeit erkannt und hat sich mittlerweile auch von selbst erledigt.

Wenn man zu einem moralischen Einsehen gefunden hat, wie das den Repräsentanten der Republik Österreich vor bald dreißig Jahren widerfahren ist, dann muss man nicht nur unverzüglich seiner moralischen Pflicht nachkommen, sondern es werden auch die aus der bisherigen Moralitätsverweigerung heraus gesparten Mittel fällig. Denn eine moralische Einsicht ist eine prinzipielle Angelegenheit und keine Frage des Zeitraums, für den sie gelten soll. Wenn man also nachträglich erkennt, dass man etwas falsch gemacht hat, ist das Mindeste, was man erwarten kann, der ernsthafte Versuch, so viel gut zu machen, wie noch möglich ist.

Das Land Österreich darf sich fragen, was es für die Staatsfinanzen bedeutet hätte, wenn die Bewohner schon 1945 gewusst und vor aller Welt einbekannt hätten, dass wir nur in den Augen einer damals demografisch kleinen Minderheit Opfer des Dritten Reiches geworden sind, dass die große Mehrheit jedoch den Hitlerstaat begrüßt hat und in der Folge viele Österreicher an den NS-Verbrechen beteiligt waren. Die ersten vier Nachkriegsjahrzehnte des Nicht-so-genau-Nehmens haben unserer ökonomischen Prosperität jedenfalls gut angeschlagen. Sie hätten uns nicht so gut angeschlagen, wären wir da von jemandem in die Pflicht der Wiedergutmachung genommen worden, oder hätten wir uns womöglich gar selbst die Pflicht der Wiedergutmachung auferlegt. Zum Beispiel für die Massaker in Griechenland durch die Edelweiß- Division, die zu etwa einem Viertel aus österreichischen Gebirgsjägern bestand.

Selbstverständlich ist die Republik Österreich kein Rechtsnachfolger des Dritten Reiches. Es kann die Republik Österreich daher auch von niemandem gezwungen werden, für offene historische Schulden gegenüber Griechenland mit einzustehen. Wenn es dazu eine Pflicht gibt, dann ist das die moralische Pflicht, die Bewohner dieses Landes in sich spüren, aber keine politische Verpflichtung des Staates.

Wie wäre es, wenn Österreich mit Deutschland zunächst einmal darüber verhandelte, wie man die historischen Schulden gegenüber Griechenland untereinander fair aufteilen könnte. Weil die beiden sich sagen: Wir, die Kinder- und Enkelgeneration der Täter, wollen diese Dinge nun endlich einvernehmlich lösen. Und der erste Schritt ist der, dass wir vor dem Hintergrund der historischen Schuld zunächst einmal über die evidenten, nicht zurückgezahlten Schulden reden.

"Gern dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin", heißt es bei Schiller. Es mag ihn gewurmt haben, dass es für seinen Lehrmeister Kant moralisch hochwertiger war, etwas gegen seine Neigung zu tun, als das zu tun, was ohnedies auch Nutzen bringt, aber er wird wohl auch gewusst haben, dass sich eine Moral nur dann durchsetzt, wenn für den moralischen Menschen auch etwas dabei herausspringt. Heutzutage muss das ein bisschen mehr sein als die Aussicht auf ein glückliches Jenseits.

Der Staat Österreich hat gerade mehrere Milliarden in den Abgrund seiner eigenen Dummheit geworfen. Von der Seite der Steuerzahler aus stellt es sich so dar: Wir haben einer Bank, die nicht einmal zu retten war, ein paar Milliarden geschenkt, weil unseren Volksvertretern und unserem Nationalbankpräsidenten das Wohl der Aktionäre wichtiger war als das Wohl des Volkes. Nun stehen sie herum wie der Zauberlehrling und probieren nutzlose Formeln aus, aber nicht weil sie die Zauberformel vergessen, sondern weil sie nur so getan haben, als würden sie eine kennen. Die verschenkten Milliarden konnten nicht nur nichts retten, sie waren obendrein eine Investition in den schlechten Ruf unseres Landes.

Wie wäre es, wenn der österreichische Bundeskanzler im nächsten Ministerrat die Runde fragte: Warum sollten wir nicht einmal zur Abwechslung eine Milliarde für unseren guten Ruf, für die Versöhnung und das gedeihliche Zusammenleben der Völker Europas ausgeben, also letztlich für die eigene Zukunft? Es wäre ein Coup, liebe Freunde, den man von uns nicht erwarten wird. Gerade deshalb sollten wir es tun. Und es hätte Charme. Es wäre kein Wiener Kongress, der anderen die Ordnung diktiert, sondern eher so etwas wie eine Wiener Schmähoffensive. Es brächte in einer Zeit zunehmender Sprachverschärfung einen neuen Ton nach Europa. Bedenkt doch die Themen, die damit berührt werden: historische Einsicht, Solidarität mit dem Schwachen, Großzügigkeit. All das brauchen wir jetzt. Es wäre eine der europäischen Zukunft zugewandte Geste.

Sagen wir, die Minister sind gleich Feuer und Flamme, und Österreich und Deutschland einigen sich darauf, Griechenland zehn Milliarden zu zahlen, neun Milliarden die Deutschen, eine Milliarde die Österreicher. Das wäre, gemessen an der Bevölkerungszahl, eine faire Aufteilung. Den Lohn dafür, nämlich eine neue Reputation, ein neuer Ton, ein neuer Umgang in Europa, werden wir freilich nur bekommen, wenn die zehn Milliarden mit keinerlei Auflagen verbunden sind. Nichts ist den Griechen verhasster als jemand, der ihnen Geld anbietet, sich aber zugleich als derjenige aufspielt, der befiehlt, wofür das Geld ausgegeben werden muss: am besten zur Rückzahlung der Schulden gegenüber den Banken aus den Geberländern.

Die zehn Milliarden sollen für Griechenland auch nicht mit der Auflage verbunden sein, in Zukunft auf alle historischen Ansprüche zu verzichten. Falls Schäuble das verlangt, muss Faymann sofort antworten: Nein, das machen wir nicht. Von Schuld reden wir nicht, die ist nur der Hintergrund unseres Umdenkens. Wir reden von den Schulden, auch wenn Deutschland sich, im Windschatten der Euphorie und weltweiten Sympathie für die Wiedervereinigung, diese Schulden geschickt von den Siegermächten hat tilgen lassen. Wir haben gehofft, mit einem Griechenland aufgezwungenen Schuldenschnitt davonzukommen. Wie immer Ihre Regierung handelt, Herr Kollege Schäuble, wir Österreicher haben jedenfalls beschlossen, unseren Anteil zu geben, ob Sie nun mitmachen oder nicht.

Wenn unser Bundeskanzler das sagt, kann Deutschland nicht zurückstecken. So können wir Deutschland zwingen, vom hohen Ross des Wirtschaftserfolgs herunterzusteigen und sich wieder in den Dienst der europäischen Zukunft zu stellen. Und unsere Griechenland-Hilfe wäre gleichzeitig Nachbarschaftshilfe. Ewig werden uns die Deutschen dafür dankbar sein, dass wir ihnen in einer Zeit, in der sie sich zu verrennen drohten, den Weg gewiesen haben. (Josef Haslinger, DER STANDARD, 21.3.2015)