Durchzählen? Walter Kraus lacht. "Wie sollte das bitte gehen? Wer da ist, ist da - und wer verloren geht, hat nicht gut genug auf die Werwölfe neben der Strecke geachtet." Aber natürlich gibt es auch eine ernsthafte Antwort. Denn Kraus, der Kopf des Wiener Fitness-, Gesundheits- und vor allem Laufportals "Runtasia" weiß nur zu gut, dass sich Menschen im Allgemeinen und Wiener im Besonderen gerne auf wen ausreden. Und Verantwortung delegieren.

Nur ist halt eines klar und wichtig - und das betont Kraus immer wieder: "Hier läuft jeder auf eigene Verantwortung. Das hier ist weder eine anmeldungs- noch genehmigungspflichtige Veranstaltung, auch keine Kundgebung oder sonst irgendetwas, das man amtlich oder behördlich kundtun oder reglementieren müsste. Das Schreiben, in dem die Polizei mir das genau so bestätigt, habe ich gerahmt daheim aufgehängt."

Foto: Thomas Rottenberg

Aber dann, nachdem der ur-wienerische "derfen's des überhaupt?"-Fragenkatalog abgehandelt ist, kommt Kraus zu dem, weswegen sich da gut über 100 Menschen an der Döblinger Endstation der Straßenbahnlinie D eingefunden haben: Um - no na - zu laufen. Und zwar im Dunkeln.

Respektive im Fast-Dunkeln. Denn zum einen haben gut drei Viertel der Läuferinnen und Läufer Stirnlampen dabei - und zum anderen sollte es, im Optimalfall, ohnehin hell sein.

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Oder werden: Einmal im Monat lädt Kraus nämlich zum "Vollmondlauf" - und würde ich diese Lauftreffs als "Geheimtipp" etikettieren, wäre das ein reichlich kläglicher Versuch, mich als "Entdecker" eines Events zu gerieren, der längst ein fixer Bestandteil der Nicht-Wettkampf-Laufkalender vieler Wiener Läuferinnen und Läufer ist: Schon am Weg zum Treffpunkt "finden" einander die Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Die Sachbearbeiterin aus dem Ministerium. Der Autohändler. Die beiden als Erasmusstudenten frisch nach Wien gekommenen Studenten … Das Erkennen ist auch nicht sonderlich schwer: Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der im Laufgewand am Abend in den D-Wagen steigt, zum Runtasia-Treff fährt, ist doch eher hoch.

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Diesmal, also am Donnerstag der vorletzten Woche, würde es auf den Kahlenberg gehen. Ob der Mond sich zeigen würde? Ungewiss: Es war kühl und windig. Und bewölkt. Aber den harten Kern der Vollmondläufer irritiert das nicht: Vollmond ist - rein technisch - ja auch, wenn es schneit, regnet und stürmt. Also wird gelaufen: Kraus und seine Fans können da jede Menge ziemlich lustiger Geschichten erzählen.

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Gelaufen wird in drei Gruppen. Und weil Kraus nicht müde wird zu betonen, dass es um Genuss und nicht um Tempo geht, gibt es immer eine langsame, eine langsamere und eine ganz langsame Gruppe. Wenn jemand unbedingt schnell sein will: Soll er. Oder sie. Aber der Reiz dieses Laufes ist das Gruppenerlebnis.

Und das gemeinsame Erkunden von Alternativen zu den Strecken, die man mittlerweile fast mit geschlossenen Augen laufen könnte: Kraus ist da ein recht kreativer Typ - und hat in und um Wien vermutlich mehr Strecken im Kopf, als man auf Strava & Co finden könnte: Als der gebürtige Kärntner zum Studium nach Wien kam, begann er die Stadt laufend zu erkunden - und hat damit bis heute nicht aufgehört: Der "Vollmondlauf" feiert heuer die zehnte Saison.

Foto: Walter Kraus/www.runtasia.at

Und eigentlich, lacht Kraus, war die Erfindung dieses speziellen Lauftreffs auch ein bisserl eine Verlegenheitslösung, mit dem er die Sommerpause eines seiner anderen, professionell betreuten, Lauftreffs "überbrücken" wollte: "Das Geniale an einem Vollmondlauf ist ja, dass man ihn niemandem extra ankündigen muss: Er steht sowieso im Kalender. Nur das ‚Wo‘ muss man dann noch kommunizieren."

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Das Wie dagegen ist klar. Und das "Wohin" im Grunde auch: Rauf auf den Kahenberg. 300 lockere Höhenmeter. Vorbei an - ob der plötzlich vorbeijoggenden Horden - leicht fassungslos wirkenden Nachtspaziergängern und Hundegassiführern. Vorbei an Heurigen und Weingärten.

Über Serpentinen und Wege, die nach jeder Biegung neue, wunderschöne Blicke auf die Stadt freigeben - und unter einem wolkenverhangenen Himmel, gegen den sich das fahle Mondlicht immer wieder für kurze Augenblicke behaupten kann: Ich kenne diese Strecke gut. Aber nicht so. Und so ging es wohl auch etlichen anderen Läuferinnen udn Läufern.

Foto: Walter Kraus/www.runtasia.at

Oben waren wir dann Touristen. Staunend. Grinsend. Lachend. Der Blick auf die Stadt war ein Traum. Und hätte, lachte einer - und bat mich diesen Satz doch bitte unbedingt zu schreiben ("weil er scheinbar in jeder Lauf-Reportage mindestens einmal vorkommen muss, sonst ist sie ungültig"), uns für alle Strapazen entschädigt - wenn der Weg herauf strapaziös gewesen wäre.

Foto: Thomas Rottenberg

War er aber nicht: genau deswegen ist die schnellste Gruppe bei Kraus hier ja auch die Langsame. "Es geht um den Genuss."

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Und ums wieder Runterlaufen: Bergab über unregelmäßig verteilte Stufen im Dunkeln kann was. Da konzentriert man sich dann doch lieber ein bisserl. Und dreht die "Hirnbirn" sicherheitshalber auf die höchste Stufe. Auch für die paar Anderen, die ganz ohne Lampe laufen.

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Aber dann, wenn das Feld wieder weiter wird und die Lichter der Stadt Stadt von unten herauf blitzen, dreht man die Lampe dann doch wieder ab: Der Mond ist hell genug. Und dass die anderen auch glücklich grinsen, sieht man weniger, als man es spürt

Foto: Walter Kraus/www.runtasia.at

Endstation ist bei der Endstation. Der Fahrer des D-Wagens schaut ein bisserl überrascht. Lacht dann - und bedauert, dass "das warme Wasser in den Duschen im vorderen Wagenteil leider heute aus ist." Andererseits, meint er, "bin ich geruchstechnisch weit Schlimmeres gewohnt, als ein Rudel frisch-verschwitzter Läufer. Ich hoff nur, ihr verkühlt euch auf der Heimfahrt jetzt nicht."

Foto: Thomas Rottenberg

Eine Stunde. Eine Runde. Gemütlicher Pace. Neun Kilometer gelaufen. 300 Höhenmeter. Aber vor allem: Viele nette Menschen kennen gelernt. Und die eigene Stadt wieder aus einer neuen Perspektive gesehen - und wieder einmal erkannt: Wien kann wunderschön sein.

Foto: Thomas Rottenberg

Walter Kraus nächster Vollmondlauf führt am 4. April durch den Lainzer Tiergarten. Treffpunkt ist beim Lainzer Tor um 18 Uhr (weil der Tiergarten zusperrt). Die Teilnahme ist kostenlos. Jeder läuft für sich und auf eigene Verantwortung. Und statt Werwölfen gibt es Wildschweine. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 19.3.2015)

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