Die Medizin spielte mitunter nur eine unterstützende Nebenrolle. Den Studenten gefiel's.

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Johannes Brahms dürfte an Bauchspeicheldrüsenkrebs gelitten haben.

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Ein typischer Montagmittag im Hörsaal 1 am Wiener AKH: Auf dem Stundenplan stehen "Interdisziplinäre Fallkonferenzen", eine Vorlesung, die für Studenten im fünften Jahr angeboten wird. Die einen essen auf ihrem Platz noch schnell zu Mittag, die anderen checken ihr Smartphone. Doch eines ist heute anders: Kein Lektor bereitete sich vorne vor, und kein Patient wird hier sein, dessen Fall sonst im Mittelpunkt stünde. Stattdessen stimmt der Cellist Maximilian Hornung sein Cello.

Zwar sollen heute Krankheitsfälle diskutiert werden, nur eben keine von Patienten, die tatsächlich anwesend sind – zumindest nicht körperlich. Denn die Vorlesung steht im Zeichen der Veranstaltungsreihe "Sounds and Science", die von vier musikaffinen Ärzten des AKH in Wien ins Leben gerufen wurde und sich diesmal unter dem Titel "Musik. Krebs. Zukunft" mit dem Leben und vor allem dem Sterben der Komponisten Johannes Brahms, Claude Debussy und Robert Schumann beschäftigt. Einerseits, indem Musiker, darunter Mitglieder der Wiener Philharmoniker, deren musikalisches Schaffen präsentieren, andererseits, indem Mediziner die Krankengeschichten der Komponisten vorstellen und analysieren. Am Sonntag fand die Veranstaltung bereits für einen guten Zweck im Wiener Konzerthaus statt, am nächsten Tag sind Medizinstudenten das Publikum.

Veranstaltung ist Pflicht

Kurz nach 13 Uhr ist der Vorlesungssaal voll. Ein junger Mann in der ersten Reihe wundert sich, dass auch der vordere Bereich des Hörsaals so gut gefüllt ist – und klärt auf: "Wir sind hier, weil wir müssen." Die Veranstaltung gelte als Pflichtveranstaltung. "Aber ich sehe auch viele unbekannte Gesichter", räumt er ein, nachdem er das Publikum gemustert hat.

Dann geht das, was Marcus Säemann, Nephrologe und einer der Organisatoren von "Sounds and Science", als "Experiment" bezeichnet, los. Der erste "Fall" der heutigen Veranstaltung: Johannes Brahms – und zuallererst seine Sonate für Klavier und Violoncello e-Moll Opus 38. Manche Studierenden berechnen die akademische Viertelstunde ein bisschen zu großzügig, sie trudeln verspätet ein, manche schauen verwirrt. Denn die Medizin spielt nur eine Nebenrolle, wenn auch eine wichtige: Manfred Hecking, selbst Musiker und Assistenzarzt in Ausbildung an der Klinischen Abteilung für Nephrologie und Dialyse am AKH, hat seinen weißen Mantel abgestreift. Er blättert die Noten für die Pianistin um.

Der Geräuschpegel ist hoch. Es wird getuschelt, Papier raschelt. "Man muss sich wahnsinnig konzentrieren", sagt die Pianistin Silke Avenhaus später. Denn natürlich geht es im Konzerthaus gediegener zu. "Aber ich finde es ganz toll, dass man hier junge Leute erreichen kann."

Bühne frei für die Medizin

Nach dem Applaus nehmen die Musiker neben den Studierenden Platz. Bühne frei für die Medizin: Denn nun erläutert die Onkologin Gabriela Kornek die Krankheitsgeschichte hinter der Klaviersonate. Brahms starb an fortgeschrittenem Leberkrebs, so lautete zumindest damals die Diagnose. Dafür sprach beispielsweise seine Gelbsucht und die Tatsache, dass auch sein Vater an Leberkrebs gestorben war. Dagegen spricht aber zum Beispiel, dass Brahms kein Alkoholiker war, wie Kornek ausführt. Daher gilt heute Bauchspeicheldrüsenkrebs als wahrscheinlicher – auch wenn Brahms' langes Überleben ohne Therapie wiederum gegen diese Diagnose spricht.

Ähnlich wird Claude Debussy präsentiert: Erst wird musiziert, dann die Krankengeschichte des Musikers, der an Mastdarmkrebs gestorben sein dürfte, diskutiert. "Debussy war sehr jung, als er die Diagnose bekam", sagt Kornek – das sei ungewöhnlich, wenn es keine erbliche Vorbelastung oder entzündliche Darmerkrankung gegeben hat. "Daran hätte Debussy nicht sterben müssen – er hätte erst gar nicht daran erkranken müssen." Heute. Denn in diesem Bereich gibt es mittlerweile echte Prävention und nicht nur Früherkennung.

Rätselraten bei Schumann

Der dritte "Patient" ist Robert Schumann, der nur 46 Jahre alt wurde und seine letzten Lebensjahre in einer psychiatrischen Klinik verbringen musste. Für das Klavierquintett Es-Dur Opus 44 gibt es tosenden Applaus – und zwar nicht nur am Ende, sondern auch schon dazwischen, was Musiker und Mediziner sichtlich amüsiert zur Kenntnis nehmen. "Das kam von Herzen", sagt Säemann später dazu.

Aus Aufzeichnungen von Schumann geht hervor, dass er schon früh an akustischen Halluzinationen litt, sich sein Sprechen später verlangsamte und er an teils skurrilen Geschmacksstörungen litt. Diagnose Hirntumor? "Diese Frage kann man sich auch 160 Jahre nach seinem Tod noch immer stellen", sagt die Onkologin Christine Marosi. Auch andere Erkrankungen wie Syphilis, Tuberkulose ("Meine Lieblingsdifferenzialdiagnose", so Marosi), Alkoholentzugsdelir und epileptische Anfälle seien möglich. "Was es wirklich war, können wir heute nicht mehr feststellen", so Marosi. All diese Erkrankungen sind aber heute zumindest behandelbar.

Fortsetzung folgt

Hat die Krankheitsgeschichte der Komponisten ihre Musik beeinflusst? Wohl kaum, glauben Musiker und Mediziner – mit Ausnahme von Schumann vielleicht, der auch in der psychiatrischen Klinik und unter Halluzinationen noch komponierte. "Die Idee ist einfach, dass man diese Menschen anders kennenlernt – und anders hört", sagt der Mediziner Manfred Hecking.

Das "Experiment" dürfte jedenfalls geglückt sein: Am Ende klopfen die Studierenden noch einmal ganz laut auf die Tische. "Wir machen weiter", kündigt Säemann an. Im Herbst soll es um "Musik und Herzversagen" und damit um die Komponisten Bruckner, Wagner und Mahler gehen. (Franziska Zoidl, derStandard.at, 17.3.2015)