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Drei Generationen meiner Familie verbringen viele Sommer im Haus unter der Pinie. Dann kommt der Krieg. Und dann der Frieden.

Zement ist graues Gold

Dass Sutivan nicht nur helle Seiten hat, sondern auch dunkle, merkt man bei der Beschaffung des Zements. Obwohl es in Split eine Zementfabrik gibt, ist es unmöglich, dort auch Zement zu kaufen. Fast die gesamte Kapazität der Fabrik wird für den Bau der Plattenbauten in den Neustädten, hauptsächlich von Beograd und Zagreb, benötigt. Der Rest geht in die Bruderländer der Blockfreien Staaten. Heute weiß man, dass die Zementfabrik von Split die Lungenkrebsrate in Sutivan steigert, weil der Zementstaub bei jeder Landwindlage genau in Sutivan herabkommt. Aber damals ist das nicht bekannt, und die einzige Sorge meines Großvaters und meines Vaters ist es, endlich an Zement zu kommen, damit man die Fundamente gießen kann. Schließlich, und gegen seine Überzeugungen und Werte handelnd, bittet Großvater einen Offizierskollegen aus Split, der den Direktor der Zementfabrik kennt, der ehemaliger Offizier der Volksarmee und davor Partisan Titos ist, um Intervention. Nach nur wenigen Tagen lädt das Schiff, das nachmittags aus Split kommt, dutzende Zementsäcke im Hafen von Sutivan aus.

Nun stehen sie auf der großen Mole und damit etwas über zwei Kilometer von der Baustelle unter der großen Pinie entfernt. Zudem ist dieser Zementsegen ohne Ankündigung eingetroffen, sodass man nun zu zweit vor einem Haufen Zementsäcken steht, von denen jeder 50 Kilogramm schwer ist. Also fragt Großvater bei einigen Stivanjani nach, was sie für das Tragen der Zementsäcke als Lohn verlangen. Die genannte Summe ist ein Wucher, weil diese Stivanjani die Zwickmühle meines Großvaters unschwer erkennen: Der Zement muss weg, bevor der nächste Regen kommt. Und Anfang Juli kann das jederzeit geschehen. Trotzig beschließt mein Großvater, die Träger aus dem Nachbardorf Mirca zu rekrutieren. Die Operation plant er militärisch, aber weil er beim Militär Musiker ist, vergisst er auf die Sicherung im Rücken. So geschieht es, dass, während mein Opa nach Mirca marschiert und mein Papa schon einmal mit einem Sack Zement zur Pinie keucht, die Stivanjani, die den Job nun nicht bekommen werden, zum Hafen schlendern und alle Zementsäcke aufschneiden. Es dauert einige Tage, um den Zement in Eimern bis zur Bucht von Majakovac zu tragen. Als der Sommer endet, ist das Fundament gegossen.

Schweiß und Beton

Im darauffolgenden Sommer soll das Haus fertig werden. Aus dieser Zeit habe ich bereits bewegte Bilder im Kopf. Weil die Stromleitung nicht bis zur Bucht von Majakovac reicht, sondern nur bis zum nördlichen Rand von Sutivan, wird das Haus mit Muskelkraft gebaut. Der Beton wird mit Schaufeln gemischt. Jeder Haufen erst fünfmal trocken, dann fünfmal nass. Das Wasser für die Nassmischung wird aus Sutivan geholt, in Eimern. Weil die Wasserleitung auch nicht bis zur Bucht von Majakovac reicht. Die Eimer werden in große Fässer geleert, die Fässer sind Überbleibsel aus der italienischen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg, Opa kauft sie von den Brüdern Škaro, die als Erste in Sutivan einen Traktor und einen Anhänger haben.

Holz und Metall werden mit Handsägen geschnitten, der Felsen unter dem Haus mit einem zwei Meter langen Stahlkeil gebrochen. Der Schutt wird in Eimern fortgeschafft, Messungen mit Winkeleisen, Maßband und einem Senkblei durchgeführt. Schon bei Baubeginn, stellt sich heraus, dass mein jähzorniger Vater der einzige bautechnisch Berufene unter allen Familienmitgliedern ist. Mein Großvater ist sein Leben lang Soldat und versteht viel von Militärmusik und dem Erschießen von faschistischen Besatzern, aber fast nichts vom Hausbau. Mein Vater jedoch ist als Kind oft auf Baustellen seines Vaters zugegen, weil er ihm jeden Tag das Mittagessen bringt. Da sieht mein Papa, wie man Verschalungen zimmert, den Beton glättet und Estrich und Putz anbringt. Und am Sommerende steht der Rohbau und sieht genau so aus, wie man es von liebevollen Dilettanten erwartet: nicht der Ästhetik unterworfen, sondern simplen Bedürfnissen folgend.

Das Haus ist ein Quadrat, auf dem ein kleineres Rechteck steht. Das Quadrat ist das Erdgeschoß, darin ist eine Küche, ein Schuppen, ein Klo mit Dusche und die Zisterne für das Trinkwasser, weil auch die Wasserleitung nur bis Sutivan reicht. Das kleinere Rechteck ist das Stockwerk mit drei Schlafzimmern, und was die Zimmer nicht bedecken, bleibt eine große Terrasse, geplant als Ort für Sonnenbäder und Familienessen. Diese Zwecke erfüllt die Terrasse jedoch fast nie, weil der Beton im Sommer so heiß wird, dass man darauf nicht liegen kann und darauf sitzend nicht essen will. Doch der Rest des Hauses, ungelenk und simpel, wie er ist, funktioniert hervorragend.

Wenn der Sommer geht

Einen Sommer später ist das Haus gedeckt. In meinem Kopf-Film sehe ich meine Mutter, wie sie Drahtstücke, die die Dachziegel mit dem Dachstuhl verbinden, durch kleine Löcher im Ton schiebt. Ab diesem Augenblick ist das Haus unter der großen Pinie bereit, bewohnt zu werden. Die nächsten fast dreißig Jahre, wichtiger noch, meine gesamte Kindheit und Jugend sehe ich die nahe und fernere Familie nur in diesem Haus. Sobald es Mai wird, komme ich mit meiner Schwester und den Großeltern nach Sutivan, wir bleiben bis Mitte Oktober.

So geht das jedes Jahr, bis wir 1971 unseren Eltern nach Wien folgen. Jeden Sommer sind trotz der Enge immer mindestens zehn Personen hier. Manche sind nicht Teil der Familie, sondern Freunde meiner Eltern und Großeltern. Und immer sind viele andere Kinder dabei. Hier essen wir alle, schlafen manchmal auf Luftmatratzen, manchmal auch auf der tagsüber nutzlosen Terrasse, genießen den Sommer der Adria, und ich darf ungebunden Kind sein. Später Pubertätstrottel und später ein junger Mann, der seine Zukunft noch sucht. Mein Vater stirbt schon 1978 während einer Herzoperation, kurz bevor der Sommer beginnt. Und im Sommer 1990 endet die Idylle.

Allein unter der Pinie

Ein Jahr vor Beginn des Krieges in Kroatien sind meine Großeltern zum letzten Mal in Sutivan. Großvater stirbt an seinen bei den Partisanen ruinierten Nieren, während die Nato Beograd bombardiert. Meine Oma stirbt vor vier Jahren in Beograd, beim Mittagsschläfchen.

Im Kroatienkrieg bin ich monatelang der einzige Bewohner des Hauses. Im Winter, wenn ich in Wien sein muss, wird in unser Haus mehrmals eingebrochen. Doch es gibt kaum etwas zu stehlen, alles ist alt und abgenutzt. Also verwüsten die Einbrecher das Innere des Hauses. Beim Einbruch in das Haus von Tante Jasminka, unserer kroatischen Nachbarin aus Zagreb, sehe ich zwanzig Minuten lang zu, wie zwei Stivanjani ihren Herd, den Kühlschrank und die Waschmaschine auf einen Anhänger laden, den sie lautlos mit Muskelkraft Richtung Sonnenaufgang wegziehen. Offenbar macht man in Zeiten der günstigen Gelegenheit (auch) in Sutivan keinen Unterschied zwischen Serben und Kroaten, sondern plündert demokratisch bei Zugezogenen, die gerade nicht da sind, weil gerade Krieg ist.

Schande, Schweigen und Ehre

Die meisten Stivanjani empfinden das Plündern und die Plünderer als Schande. Die meisten Stivanjani wissen aber auch genau, wer von ihnen sich damals in den unbewachten Häusern bedient. Ich auch. Doch kein Stivanjanin nennt der Polizei, die unwillig, aber der Ordnung halber doch ermittelt, einen einzigen Namen. Ich auch nicht. Weil's wurscht ist, weil's den Kühlschrank und den Herd nicht wiederbringt, weil's die Bestohlenen stoisch hinnehmen. Weil halt Krieg ist und so was im Krieg passiert. Ich glaube, diese dalmatinische Variante der Omertá, die ich einhalte, macht mich damals zum Stivanjanin ehrenhalber.

Doch weil die Ehren-Stivanjaninschaft einem nicht schriftlich mitgeteilt wird, merke ich das erst im Laufe der nächsten Jahre. Beispielsweise daran, dass Jere mir kein moderiges Holz für den Kamingrill mehr verkauft , sondern gutes, trockenes von der Olive und von der Pinie. In der Bar zahlt manchmal der eine oder andere Stivanjanin meine Drinks und nickt mir beim Abschied zu. In der Pizzeria kommt meine Pizza schneller zu mir als zu den Touristen. Und Benko, der Fischer, gibt mir immer noch eine (kleinere) Zahnbrasse gratis dazu. In den Jahren davor sind alle Stivanjani, die ich kenne, freundlich und hilfsbereit, aber die oben beschriebenen kleinen Gesten und Vorteile sind nur für andere Stivanjani, die Eingeheirateten Schwieger-Stivanjani und eben für Ehren-Stivanjani, wie ich nunmehr einer bin, vorbehalten.

Der letzte Schatten fällt

Inzwischen wächst das Haus. Die nutzlose Terrasse wird zu einer großen Wohnküche, das Haus wird winterfest gemacht, alle Stromleitungen erneuert, ein moderner FI-Schalter eingebaut, ein zweites Badezimmer mit Klo kommt dazu. Am Ende könnten hier wieder mindestens zehn Menschen den Sommer verbringen, ohne auf Luftmatratzen oder unter dem freien Himmel schlafen zu müssen. All das bezahlt meine Mutter von ihrer Abfertigung, meine Schwester organisiert und beaufsichtigt die Bauarbeiten.

Dann, an einem sehr heißen Sommertag im Juli 2012, kommt der Mann vom Wasserwerk, um den Zählerstand abzulesen. Als er weg ist, begreife ich, dass jedwede Idylle rund um das Haus unter der Pinie für immer gestorben ist. Und ich wünsche mir bei jedem Tastenschlag, der diese Geschichte im Winter 2013 auf einem schmuddeligen Laptop schreibt, sie wäre bloß erfunden.

Der Mann vom Wasserwerk schlägt sein großes Buch auf und notiert den Zählerstand unter dem Namen eines mir Fremden, den er mir zeigt, um sicher zu sein, dass er die richtige Rubrik ausfüllt. So erfahre ich, dass unser Wasser seit geraumer Zeit von einem Mann bezahlt wird, der Kroate und frischgebackener Ehemann meiner Schwester ist.

Das brennende Siegel

Am nächsten Tag stehe ich im Büro des Wasserwerkes, wo man mir die Kopie eines Schenkungsvertrages zeigt, der meiner Schwester den Erbteil meiner Mutter zuspricht. Das Siegel des Notars brennt in meinem Magen wie ein Brandeisen, mir wird kurz übel, und ich fliehe aus dem Büro.

Dieselbe Kopie der Schenkung wird mir beim Stromversorger unter die Nase gehalten. Dann bei der Steuerbehörde und bei der Zahlstelle für die Kommunalien. Nach diesem Marathon durch Büros, wo mir immer dasselbe Notariatssiegel den Magen verbrennt, rufe ich meine Mutter an. Sie sagt nur, sie könne sich an nichts erinnern, außer dass sie meine Schwester ein paar Jahre zuvor bittet, den Vertrag zu annullieren. Vergebens. Danach rufe ich meine Tante in Beograd an. Und danach fahre ich nach Sutivan und beschließe, mich in der Kavana Palma zu besaufen. Der Grund für den Wunsch nach einem Alkoholabsturz ist die kurze Rede, die meine Tante am Telefon abhält. Ich sei ein Hallodri wie mein Vater– sagt meine Tante –, weswegen auch sie meiner Schwester als Hochzeitsgeschenk ihren Erbteil am Haus unter der Pinie mit einem Schenkungsvertrag überschreiben will. Dann legt sie auf.

Der Volkssport

Nun sitze ich in der Palma und trinke Whiskey. An meinem Tisch sitzen Stivanjani, die ich gut kenne und deren Anwesenheit und Bereitschaft, mein Leid anzuhören, nur ein weiterer Beleg meiner Ehren-Stivanjaninschaft ist.

Erst hören sie mir zu, dann reden auch sie. "Bei mir war' auch meine Schwester!", sagt Frane Motor Doktor. "Die Wohnung in Split!" Frane pfeift die Onomatopöie des Wegfliegens und hebt die linke Hand vor mein Gesicht. "Davongeflogen! Nimm dir einen Anwalt!" Ivica sagt: "Nix ist das! Mich hat meine eigene Mutter enterbt! Und dann alles meiner Schwester geschenkt!" Srećko, den alle wegen seiner serbischen Mutter nur "Polovina" nennen, was "Hälfte" bedeutet, sagt: "Mein Vater hat meine Mutter überredet, ihr halbes Grundstück zu überschreiben. Der hat dann da ein Appartementhaus gebaut und nach der Scheidung sofort verkauft! Im Krieg war das ..." Nun fühlt sich Vatroslav an die Reihe gekommen: "Mein Bruder hat's versucht, ich hab einen Anwalt genommen – alles gut! Jetzt hab ich das Haus, und er hat nix! Nimm dir einen Anwalt!"

Die Selbsthilfegruppe

Ich habe bereits vier Whiskey exiert, die anderen sind auch nicht nüchtern. Kurz ist mir die Vorstellung amüsant, wir seien anonyme Alkoholiker, die ihr Mantra aufsagen: "Hallo, mein Name ist Bob, ich bin Alkoholiker."

Dann, nachdem alle geständig sind und sekundenlang auf ihre Gläser, Hände oder das Meer blicken, sagt Mate, der Dorfchronist: "Ja, so ist das! Und ist immer schon so gewesen!" Nun blicken wir alle auf Mate, weil wir wissen, dass in Mates Kopf außer mindestens vierhundert dalmatinischen Kochrezepten auch noch die letzten vierhundert Jahre Dorfgeschichte gespeichert sind. "Die Verwandtschaft klaut einander Olivenhaine, Häuser, Land, Boote ... Ich kenn welche, die haben erst um jeden Teller gestritten und dann um jede Glühbirne." Jetzt lachen alle, weil alle die Brüder im Dorf kennen, die einige Jahre zuvor wegen einer Glühbirne vor Gericht streiten. Zumal die Glühbirne kaputt ist und beide Brüder dem verblüfften Richter antworten, tagsüber sei die kaputte Glühbirne doch gut. Mate zeigt mit seinem Autoschlüssel auf mich: "Das ist hier Volkssport! Nimm dir einen Anwalt!" Alle sehen mich an und nicken.

… oder nicht sein?

Nunmehr bin ich zu hundert Prozent ein Ehren-Stivanjanin, weil ich auch an ihrem traurigen Volkssport teilnehme. Und mit allem hat das Haus unter der Pinie zu tun. Ich habe die Wahl, aufzugeben, meiner Schwester das Haus zu überlassen und jeden Sommer, der für mich leistbar ist, wie die anderen Touristen ein Appartement für zwei Wochen zu mieten. Ich kann auch den Trost von Ivica annehmen, der sagt: "Ich hab da ein kleines Appartement über der Bar. Ich mach dir einen guten Preis!" Die anderen Stivanjani lachen, ich kann auch mitlachen. Doch Trost sieht anders aus.

Dann, durchaus pathetisch aufgeladen, sehe ich in meinem Kopfkino meinen kleinen Sohn, der im Jahr zuvor im Haus unter der Pinie gehen lernt. Und wenn ich auf die Fast-forward-Taste drücke, dann sehe ich, wie er in Sutivan schwimmen lernt, ein Mädchen küsst, ein Mann wird und ein Stivanjanin ehrenhalber, dessen Kind hier das Gehen, das Schwimmen und das Küssen lernt. Damit das kein Film bleibt, sondern Realität werden kann, darf ich nicht aufgeben. Ich beschließe, einen Anwalt zu nehmen. Und ihm mein zweites Buch zu widmen. (Bogumil Balkansky, daStandard.at, 17.3.2015)