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Auch das ist Hollywood - von unten, ohne Glamour, obdachlos: Manchmal hilft es, die Dinge aus den Augen eines anderen zu sehen, oder wie der ehemalige US-Präsident John F. Kennedy einmal sagte: "Das Leben ist ungerecht, aber denke daran: nicht immer zu deinen Ungunsten."

Foto: Reuters / Mario Anzuoni

Der Frage nach der Gerechtigkeit nähert man sich am besten mit einer Komödie - das Thema ist schließlich schwer genug. Sullivan's Travels von Preston Sturges bietet sich an, ein Klassiker aus dem Jahr 1942. Ein Filmemacher namens Sullivan möchte da einmal so richtig wissen, wie das ist, wenn man in Schwierigkeiten ist. Wie lebt ein Penner? Um das zu erfahren, muss er einer werden. Ein Hobo mit Versorgungswagen, das macht natürlich wenig Sinn, und so dient die Mechanik der Komödie hier vor allem dazu, Sullivans Absicherungen zu kassieren. Am Ende sitzt er unschuldig im Gefängnis und kann sich nicht ausweisen. Er ist auf das nackte Leben gekommen, würde man in der Sprache der neueren Theorie sagen. Wer das einmal erlebt hat, wird den Sozialstaat mit anderen Augen sehen.

Es ist ein normaler Vorgang in Gesellschaften, dass sie sich über wichtige Fragen des Zusammenlebens in Form von Erzählungen verständigen. Das Hollywood-Kino der 30er- und 40er-Jahre hat den New Deal nicht nur begleitet, sondern ihm sicher auch Plausibilität zuwachsen lassen. Und selbst einen Klassiker der neueren Gerechtigkeitstheorie könnte man mit Blick auf Sullivan's Travels lesen: A Theory of Justice von John Rawls erschien erstmals 1971 und gilt bis heute als Richtmarke für eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Begründungsproblemen von Gerechtigkeit.

Hinter dem "Schleier des Nichtwissens"

In der Konzeption von Rawls gibt es ein entscheidendes theoretisches Manöver: Die Aushandlung dessen, was "gerecht" sein kann, muss immer unter einem "Schleier des Nichtwissens" ("veil of ignorance") erfolgen. Das heißt konkret, dass ich mich an so einer Diskussion immer so beteiligen müsste, als ginge es gerade nicht um mich - oder anders gesagt: als wüsste ich nicht, wo ich in der Gesellschaft eigentlich stehe. Das Ergebnis, das für Rawls immer eines der Qualität von Institutionen sein muss, müsste für mich also auch zufriedenstellend sein, wenn ich ein unschuldiger Penner in einem Gefängnis bin.

Man kann den "Schleier des Nichtwissens" auch positiv fassen: Eines der Lernergebnisse der Moderne ist, die eigene Position zu relativieren. Wir tun das andauernd, der Roman als literarische Form hat uns daran gewöhnt, in andere Figuren gleichsam zu schlüpfen, und das Erzählkino hat diese "Perspektivübernahme" (Felix Heidenreich) fast schon zur Routine werden lassen.

Wechsel der Perspektive

Konkret bedeutet das politisch, dass sich jemand in der Einschätzung der Sinnhaftigkeit einer Erbschaftssteuer nicht davon beeinflussen lassen müsste, selbst in der Erwartung einer hohen Summe zu leben. Oder aber, dass die eigene Position zu Vermögensbesteuerung davon abstrahieren müsste, wie viel man selbst auf der hohen Kante hat. Und schließlich, dass man bei einer Finanztransaktionssteuer das Für und Wider nicht nur durch die Nervosität bestimmt sein lässt, "die Märkte" könnten sich an andere Finanzplätze verziehen. Der dritte Fall ist schon einer, der eine "Perspektivübernahme" besonders werden lässt, denn "die Märkte" sind in dem Sinn kein Subjekt, das als solches an den idealtypischen Verhandlungsprozessen teilhat, von denen jemand wie Rawls (oder, in einer variierten Form, Jürgen Habermas mit seiner kommunikativen Rationalität) ausgeht.

Aushandlungsprozess

Dass man Gerechtigkeit überhaupt als eine Sache der Aushandlung begreift, ist das Ergebnis einer langen und faszinierenden Geschichte des Nachdenkens über dieses schwer zu fassende Gut. Bis weit in die Neuzeit hinein gingen fast alle Konzepte davon aus, dass die Natur da schon irgendwie die wesentlichen Voraussetzungen und die richtige Ordnung bereithält. Das führte aber irgendwann zu einem Widerspruch zu den neu erkannten Idealen der Aufklärung: Freiheit und Gleichheit vor allem - und das Glück als das erstrebenswerte Ziel, um dessentwillen man lebt (und zwar mehr als nur "nackt"). Eine auf männliche Dominanz (Kaiser, Papst, Familienvater) beruhende Gesellschaft mag noch so natürlich anmuten, es spießt sich da eben mit vielen Ansprüchen, die inzwischen als unabweisbar gelten. Wobei auch da zwei Schulen miteinander streiten: Ob die allgemeinen Menschenrechte, auf denen zum Beispiel die Zurückweisung jeder Diskriminierung nach dem Geschlecht beruht oder das Prinzip der Religionsfreiheit, universal gelten oder kulturell eingeschränkt, das ist eine der zentralen Kontroversen zwischen dem Islam und dem Westen (wenn man diese beiden Großbegriffe hier einmal so ungeschützt stehen lassen will).

Die bedrohte Gleichheit

Zur Jahrtausendwende schrieb der große Philosoph Ronald Dworkin einen markanten Satz: "Gleichheit ist heute die bedrohte Art unter den politischen Idealen." Das hat mit einer ideologischen Konjunktur verschiedener Neoliberalismen zu tun. Wenn Gerechtigkeit immer zwischen den Idealen der Freiheit und der Gleichheit vermittelt, so haben derzeit diejenigen das stärkere (nicht unbedingt besser begründete) Wort, die im Namen der Freiheit gegen Strategien zur Herstellung besserer Gleichheit argumentieren. Die Erbschaftssteuer ist dafür ein exzellentes Beispiel. Ihre Gegner tun so, als wäre Reichtum per se eine persönliche Errungenschaft und würde nicht auf Zufällen der Geburt, (infra)strukturellen Voraussetzungen und der Rechtssicherheit eines funktionierenden Staates beruhen. Die Befürworter suchen nach gerechter Finanzierung für einen Staat, dessen Rolle eben darin liegen sollte, durch seine Institutionen die Ungleichheiten auszugleichen, die ständig entstehen. Die "Geburtslotterie" (Clemens Sedmak) sollte in einer entwickelten Gesellschaft nicht das letzte Wort über das Schicksal von Menschen sein. Die individuellen Lebensläufe sind im Gegenteil gewissermaßen der Maßstab, an dem Gesellschaften jeweils erproben sollten, wie nahe sie dem erstrebenswerten Verteilungsoptimum von Freiheiten und Absicherungen sind, von dem jemand wie Rawls ausgeht. Für ihn ist Reichtum immer sozial gebunden.

Die meisten Menschen würden da ohne weiteres zustimmen. Viele Theoretiker der Gerechtigkeit gehen heute davon aus, dass es so etwas wie einen "Sinn" dafür gibt - wir verspüren intuitiv, wenn etwas diesem Sinn zuwiderläuft, und haben im Alltag ein Gerechtigkeitsempfinden. Das schwankt zwar häufig zwischen Rechthaberei und Sentimentalität, ist aber als Quelle für politische Willensbildung immer virulent. Dieser Sinn speist sich aus Erfahrungen und Beobachtungen von Verwundbarkeit, von beschädigter Integrität, und er geht übrigens über die Mitmenschen hinaus. Auch Tiere und die Natur im weiteren Sinne sind inzwischen Gegenstand von Gerechtigkeitsdebatten.

Das Pathos der Freiheit

Sich selbst als verwundbar zu erleben, das ist eine der essenziellen Übungen auf dem Weg zur Gerechtigkeit. Verwundbarkeit ist der Stachel im Pathos einer Freiheit, die meint, es würde schon genug nebenbei für den Rest abfallen, wenn man sich nur selbst uneingeschränkt durchsetzen könnte. Verwundbarkeit hat sich aber auch als Ressource für die neuen Populismen in Europa erwiesen. Sie spielen mit Ängsten, denen gegenüber man im Idealfall einer vernünftigen Aushandlung selbst wieder kritisch sein müsste. Hier stoßen die meisten Theorien von Gerechtigkeit an ihre Grenzen. Sie versuchen, als "rational choice" zu modellieren, was im Alltag meist ein Durcheinander von Meinungen, Gefühlen und Projektionen ist. Im Zweifelsfall hilft eine Übung aber in der Regel ein bisschen weiter: Versetzen Sie sich in die Lage von jemand anderem. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 14.3.2015)