Wien - China Girl heißt nicht nur ein großartiger Song von David Bowie, den er gemeinsam mit Iggy Pop geschrieben hat. China Girls wurden auch jene Frauen genannt, die auf Vorspannbändern von Filmen zu sehen sind. Im analogen 20. Jahrhundert dienten sie zur Orientierung für den Labortechniker: ein Referenzmodell für helle Hautfarbe, das die richtige Farbabstimmung ermöglichen soll. Haut muss wie Haut aussehen, ansonsten nimmt der Realitätsanspruch des Films Schaden.

Die Hauptfigur (und teilweise auch Ich-Erzählerin) aus Rachel Kushners Roman Flammenwerfer (Rowohlt-Verlag) verdient sich im New York der fortgeschrittenen 1970er-Jahre auf diese Weise ihr Grundeinkommen. Der Job entspricht nicht nur einer jungen Künstlerin, die in einer rohen, gefährlichen, gleichwohl vibrierenden Metropole Fuß fassen möchte. Es ist auch ein Bild für die Erzählhaltung des Buches: Die Heldin ist selbst eine Art Korrektiv, mit dem man die Farbintensitäten ihrer Zeit und ihrer Lebenswelt abgleichen kann.

China Girls waren gewöhnliche Frauen, keine Models. "Der Reiz lag zum Teil in ihrer Geschwindigkeit", schreibt Kushner: "Wenn man sie durch einen Projektor laufen ließ, sausten sie so schnell vorbei, dass das Bewusstsein sie sofort rekonstruieren musste." Dabei ist Reno - so wird die namenlose Heldin von Ronnie, einer ihrer Männerbekanntschaften genannt - eine durchaus auffallende Person. Eine Frau, die Motorräder liebt und eben auch Geschwindigkeit. In einem frühen Kapitel, das Kushners plastische und gleichzeitig feinfühlige Prosa anschaulich macht, begleiten wir sie in die Salzwüste von Utah, wo sie an einem Hochgeschwindigkeitsrennen teilnimmt, bis sie der Wind umbläst.

Reno bleibt der Angelpunkt des Romans, mit ihr entdeckt man ein dunkles, wildes New York, ein Boheme-Milieu aus Aufmerksamkeitskünstlern, das nicht vor dem Gefühl der Einsamkeit bewahrt. Den Ton geben Männer an, die ihre Virilität offen zur Schau stellten - mitunter auch theatralisch mit der Waffe. Wie weiland William Gaddis in Die Fälschung der Welt zeichnet Kushner diese Subkultur mit Sorgfalt und Überschwang. Die Beziehungen bleiben fließend, auch wenn Reno in Sandro, dem Spross einer italienischen Industriellenfamilie, einen Geliebten findet. Ihr Verhältnis ist nicht nur aufgrund des Altersunterschieds von einer unausgesprochenen Distanz geprägt.

Aufbruch und Kollektiv

Doch mehr als solche zwischenmenschliche Dynamiken, die eine erzählerische Kontinuität gewährleisten, interessieren Kushner Beschleunigungen, auf einer individuellen und gesellschaftlichen Ebene, Ungleichzeitigkeiten und merkwürdige Überlappungen. Sie filtert Aufbruchsstimmungen durch ein Kollektiv - dieses mal diffusere, mal konkretere Gefühl eines kommenden Einschnitts. Dass es dafür keine Hauptfigur, sondern ein Zusammenspiel vieler Faktoren braucht, ist eine der klügsten Ideen dieses Buches. In den USA wurde es auch deshalb kontrovers diskutiert - eine Frau dringt hier couragiert in die Loge der "Great American Novel" vor.

Kushner wählt einen eleganten und variantenreichen Weg, die Künstlerszene im New Yorker SoHo mit den Klassenunterschieden und linken Aufständen im Italien der späten 70er-Jahre zu verknüpfen. Die historische Recherche wird in Flammenwerfer aber zu keinem Ornament an der Oberfläche. Sie wird verdichtet, zu Gesten, zu Erfahrung. Plötzlich steht Reno 1977 in Rom auf der Piazza Navona, mitten in einer eskalierenden Demonstration.

Aber auch Filme, Kunstwerke werden in den Text eingemeindet: Alberto Griffis Anna etwa. Die Maschinenbegeisterung der Futuristen denkt Kushner in andere, lebenspraktischere Bereiche weiter. Souverän wechselt die 1968 geborene Autorin Perspektiven, lässt Milieubeschreibung auf Abenteuerelogen, innere Revision auf biografischen Abriss folgen, ohne sich vom Realismus zu verabschieden. Sie wollte keinen Schlüsselroman über eine Ära schreiben, hat sie gesagt, sondern das, was sie an den Siebzigern interessant fand, verstofflichen. Verstofflichung, das ist ein schöner Begriff für diesen konzeptuellen Roman, der sich dennoch der Fabulierlust verschreibt und sich Menschen widmet, durch die die Geschichte hindurchfegt. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 11.3.2015)