Dieses Pergamentblatt aus dem elften oder zwölften Jahrhundert diente der Illustration des Lukas- und des Johannesevangeliums. Bildunterschrift: Die syrischen und griechischen Schriften beziehen sich auf die Namen der Evangelisten Lukas (links) und Johannes (rechts).

Foto: Hill Museum & Manuscript Library / Ephrem Ishac

Graz - Es ist ein zynisches Jubiläum des Schreckens: Als IS-Terrormilizen vergangene Woche christliche Dörfer in Nordsyrien eingenommen, hunderte Menschen verschleppt und etliche davon ermordet haben, mischte sich in den akuten Horror auch die Erinnerung an einen anderen, lange zurückliegenden Massenmord an den Christen dieser Region. Vor genau 100 Jahren fand an deren Vorfahren nämlich einer der am wenigsten bekannten Genozide in der modernen Geschichte statt.

Hunderttausende Christen wurden 1915 von der osmanischen Regierung nach deren Niederlage gegen das christlich-orthodoxe Russland aus der Südosttürkei vertrieben oder getötet. Eine Katastrophe, die im Schatten des viel größeren Genozids an den Armeniern kaum Niederschlag in den Geschichtsbüchern fand, sich aber tief in das Gedächtnis der Überlebenden und ihrer Nachkommen eingebrannt hat.

Einer von ihnen ist der syrische Theologe Ephrem Ishac, der vor eineinhalb Jahren von Aleppo über New York und den Libanon nach Österreich gelangte und nun in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt zumindest einen kleinen Teil des erneut von Vernichtung bedrohten uralten christlichen Kulturerbes seiner Heimat zu bewahren versucht.

Konkret geht es dabei um eine kritische Edition alter handschriftlicher Textvorlagen für das Hochgebet in der syrisch-orthodoxen Liturgie. Die ältesten dieser sogenannten Anaphoren entstanden bereits im dritten und vierten Jahrhundert, die im Projekt bearbeiteten Texte sind zum Großteil um die 1000 Jahre alt. Wie viele Handschriften mit Anaphoren überhaupt existieren, wissen selbst Experten nicht genau.

"Viele kirchliche Organisationen versuchen, Handschriften zu retten, indem sie diese an geheime Orte bringen oder vergraben", sagt Projektleiter Erich Renhart, Leiter der Abteilung für Sondersammlungen und des Zentrums für die Erforschung des Buch- und Schrifterbes an der Universitätsbibliothek Graz. Ein großer Teil der Handschriften, in denen sich verstreut auch Anaphoren befinden, wurde allerdings schon im 19. Jahrhundert im Zuge der großen Orient-Expeditionen angekauft und ins Ausland gebracht.

"Wir wissen von über 300 Handschriften weltweit, die westsyrische Anaphoren beinhalten", sagt Ishac. Die wichtigsten Quellen für ihre Arbeit finden die beiden Forscher deshalb auch in den Bibliotheken von Cambridge, London, Paris oder des Vatikan. Aber auch in Syrien selbst und anderen Ländern des Nahen Ostens werden noch viele Handschriften vermutet. "Bereits vor dem Krieg in Syrien habe ich versucht, die Bibliothekare der Kirchen und Klöster von der Notwendigkeit einer Digitalisierung dieser wertvollen alten Texte zu überzeugen", sagt Ishac. "Aber das Misstrauen ist groß, viele wollen die Schriften nicht aus der Hand geben."

Manchmal werden die Handschriften von den Kirchenbediensteten selbst digitalisiert und dann gemeinsam mit den Digitalisaten am gleichen Ort aufbewahrt. Ein fataler Fehler, denn so kann alles auf einen Schlag vernichtet werden. Auf ihren Zerstörungszügen suchen die IS-Terroristen übrigens gezielt nach Büchern und Manuskripten, die in ihren Augen das Böse verkörpern und verbreiten. Vor einigen Wochen haben sie die historische Bibliothek von Mossul gestürmt und laut Augenzeugenberichten an die 8000 Bücher verbrannt. Darunter Exemplare, die auf der Raritätenliste der Unesco stehen.

Bedrohte Handschriften

"Das ist furchtbar und von den Terroristen auch unglaublich dumm, denn diese Handschriften könnte die IS um enorme Summen auf dem Schwarzmarkt verkaufen", sagt der Wissenschafter. "Dann blieben sie zumindest erhalten, auch wenn die Forschung vorerst keinen Zugriff darauf hätte." Üblicherweise werden solche Sammlungen immerhin nach dem Tod des unrechtmäßigen Besitzers in Form von Stiftungen diversen Museen vermacht.

Erfreulicherweise gebe es mittlerweile eine wachsende Zahl von Handschriften aus bedrohten Regionen, die dank der Hill Museum & Manuscript Library (HMML) identifiziert, digitalisiert, archiviert und damit vor dem spurlosen Verschwinden gerettet werden können. "HMML ist eine Non-Profit-Organisation in Minnesota, die mit enormen privaten Spendengeldern Kulturgüterschutz im großen Stil betreibt", sagt Renhart.

Rund 40 Millionen handschriftliche Seiten konnten so bislang in Sicherheit gebracht werden. "Auch einige der von uns bearbeiteten Anaphoren stammen aus diesem Fundus", sagt Renhart.

"Stille Post"-Prinzip

Um die bislang unedierten Anaphoren aufzuspüren und ihre Veränderungen im Lauf der Jahrhunderte zu erfassen, müssen die Forscher hunderte Handschriften durchforsten. Da vieles während der Frühzeit des Christentums noch mündlich überliefert wurde und auch bei der Verschriftlichung immer wieder Änderungen vorgenommen wurden, findet man von ein und derselben Anaphora oft sehr unterschiedliche Varianten.

"Weil so wenige Texte davon ediert sind, wissen wir aber nicht, wer von wem abgeschrieben hat und wie die einzelnen Texte miteinander zusammenhängen", sagt Renhart. "Wir wollen herausfinden, was passiert, wenn ein Text über viele Jahrhunderte immer wieder kopiert wird." Eine Art "Stille Post" im Langzeitformat und eine Studie über die Veränderungen christlicher Vorstellungswelten im ersten Jahrtausend.

Die Sprache der gesuchten und analysierten Handschriften ist Syrisch. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die heutige Landessprache von Syrien - die ist nämlich das Arabische -, sondern die Minderheitensprache der syrischen Christen in der Osttürkei, im Nordirak und im Nordosten Syriens.

"Was man als Syrisch bezeichnet, ist eigentlich ein aramäischer Dialekt" , sagt Renhart. "Tatsächlich gibt es heute noch Menschen, die diese Weiterentwicklung des Alt-Aramäischen - der Sprache Jesu - im Alltag verwenden."

Vor Krieg und IS-Terror lebten etwa zwei Millionen Christen in Syrien. Etwa 30 Prozent seien inzwischen geflüchtet, berichtet Ishac. Genaue Zahlen über die Ermordeten, Verschleppten und auf der Flucht Umgekommenen gibt es zurzeit nicht. Das Ausmaß der Vernichtung von Kulturschätzen lässt sich nicht einmal erahnen. (Doris Griesser, DER STANDARD, 11.3.2015)